"Der Ami hat doch gar kein Interesse daran", murrte Hesse.
"Das Wort, der Ami, ist ebenso oberflächlich wie der Jude, der Neger. Es gibt überall sone und solche."
"Leider haben die Solchen meist zu bestimmen."
"Das beeindruckt mich so an Wuntram. Er versucht, sich an die Vernünftigen zu halten, aber auch mit den anderen auszukommen."
Hesse sah, wie Suling jetzt etwas in die Menge schrie, und die PWs gaben nach draußen weiter, Top-Tabak und Zigarettenpapier seien ausverkauft. Die Wut der Enttäuschten richtete sich gegen den unschuldigen Suling. Hesse registrierte es trotzdem mit Genugtuung. Er fand außerdem, er müsse den altklugen Bemerkungen Kresserts einen Dämpfer aufsetzen, und entgegnete ihm: "Bauer würde sagen, das birgt die Gefahr der Prinzipienlosigkeit."
Kressert lächelte ein wenig mitleidig. "Dabei ist er noch einer der Beweglichsten. Bin gespannt, wer sich bei den Kommunisten in Bezug auf die Lagersprecherwahl durchsetzen wird. Morgen früh beim Appell wird sie offiziell bekannt gegeben."
"Demnach haben sie im Headquarter ihren Mann gefunden?"
"Allerdings. Klee heißt der Gegenkandidat."
"Wuntram wird ihn um Längen schlagen."
"Nicht, wenn Zecke ebenfalls kandidiert."
"Das glaubst du doch selbst nicht."
"Die maßgeblichen Kommunisten sitzen jetzt bei Zecke. Wäre es so einfach, sie hätten die Besprechung längst beendet."
Hesse schwieg betroffen. Es war ihm unvorstellbar, dass es Bauer mit seinen Freunden nicht gelingen könnte, Zecke umzustimmen. Hesse kannte Zecke nur von fern, wusste aber von seiner hohen Zuchthausstrafe und dass er bei 999 um ein Haar erschossen worden wäre. Jemand hatte Zecke gewarnt. Als sie gekommen waren, um ihn zu verhaften, war er in amerikanische Gefangenschaft geflüchtet. Wie hoch überragte Zecke einen Hesse an persönlicher Tapferkeit. Dieser Mann sollte nicht zu überzeugen sein?
Kressert wie Hesse sahen, dass sie heute nicht in aller Ruhe einkaufen konnten, und wandten sich ab vom Getümmel. Vor der Baracke Kresserts sagte Hesse impulsiv: "Du wirst es erleben, dass du zu schwarz siehst."
"Hoffentlich." Kresserts rundes Gesicht unter dem hellblonden Haar sah nicht hoffnungsvoll aus.
Der Lagerbibliothekar Kuhn begrüßte Hesse am nächsten Morgen herzlich. Kuhn gehörte wie Ede zum Jahrgang neunzehnhundertneun. In seiner langsamen, bedachten Sprache war das harte R der Wasserkante unüberhörbar. Vom Tag der ersten Ausleihe an gehörte Hesse zu den Stammkunden der Bibliothek. Bei Literaturgesprächen waren sie sich nähergekommen. Kuhn bedauerte es nicht, dass ihm Shelter indirekt den Gehilfen Hesse beschert hatte. Eine Bücherkartei musste angelegt werden, ebenso eine Leserkartei. Kuhn hatte sofort nach dem Eintreffen der ersten Bücherkiste mit dem Ausleihen begonnen. Der Buchbestand war inzwischen beachtlich gewachsen. Der YMCA, der christliche Verein junger Männer der USA, nahm die kulturellen Belange der Kriegsgefangenen ernster als Captain Shelter. Für jede Bücherkiste bedankte sich Kuhn mit einem Brief, nörgelte nicht, sondern machte behutsam auf die Besonderheit des Lagers aufmerksam. So kam auch langsam ein Bestand zusammen, den Kuhn den "Schatz" der Bibliothek nannte. Es waren Werke, in der Aurora-Bücherei erschienen, von antifaschistischen Autoren wie Weiskopf, Seghers, Kisch und Balk. Außerdem wurden für deutsche PWs Lizenzausgaben des Querido-Verlages und des Verlages S. Fischer gedruckt, Bücher von Autoren wie Thomas Mann, Brecht, Werfel sowie Übersetzungen von Hemingway, Steinbeck, Saroyan und einer Reihe anderer amerikanischer Schriftsteller.
Eine rote Sonne stand im kalten Winterdunst, ihre sanften Strahlen glitten über Reihen von Bücherrücken, ließen Stäubchen in ihrer Bahn tanzen, hellten dunkle Ecken auf. Im Lager war es still. Die Arbeitskommandos befanden sich außerhalb des Zauns. Erst nach dem Abendappell begann die Ausleihe.
Corporal Trailshag kam. Er begrüßte die beiden salopp und so unbefangen, dass es den Anschein haben konnte, der Corporal wisse nichts von der Affäre Hesse-Shelter. Kuhn und Trailshag sprachen ungezwungen miteinander.
Der Corporal berichtete amüsant von seinen Jobs an Theatern des New Yorker Broadway als Hilfsinspizient, Beleuchter und allerhand hinter den Kulissen. Mehrere Aufführungen der Theatre Workshop Piscators in New York hatte er gesehen. Er gab Kritiken über Brechts "Galileo Galilei" wieder, der mit Charles Laughton in der Hauptrolle in Kalifornien uraufgeführt worden war.
Aufpassen, warnte sich Hesse, der Boy wirkt so natürlich. Seine Kunstbegeisterung scheint echt, aber seine freimütige Art dürfte Masche sein, mich auszuholen. Wir könnten Brüder sein, wäre er nicht um einiges rundlicher. Er ist höchstens fünf Jahre älter als ich, hat aber schon amerikanischen Speck angesetzt. Fehlte nur noch, dass sein Haar von gleicher Farbe wie das meine und etwas gewellt wäre.
Trailshag richtete seine munteren Augen auf den Schweigsamen. "Zufrieden mit dem neuen Job?"
"Ohne Frage." Je kürzer ich antworte, desto weniger kann ich mich verquatschen, dachte Hesse.
"Ein neuer Job - aber unter dem alten Vorgesetzten", bemerkte Kuhn vielsagend.
Trailshag winkte ab. "War die Semmel schon ein einziges Mal in der Bibliothek?"
"Noch nie", sagte Kuhn.
Trailshag schlug sich auf die Schenkel. "Vor Büchern graust es ihm noch mehr als vor dem Theater."
Hesse wehrte sich gegen die aufkeimende Sympathie für den Corporal. Doch er ließ sich hinreißen zu sagen: "Sie haben eine hohe Meinung von Captain Shelter."
Der Corporal sah ihn aufmerksam an. "Kennen Sie die Geschichte vom King Midas? So einer ist die Semmel. Ob Potato-Chips, Rasierklingen, Autos oder Feuerzeuge, alles muss in ihren Händen zu Gold werden. Da dies mit der Kunst etwas umständlicher ist, gibt es für diese Sorte nur eins, entweder auch zu Gold oder totmachen."
Hesse seufzte übertrieben. "Jetzt weiß ich noch genauer, weshalb ich für Shelter ungeeignet war."
Todernst widersprach Trailshag. "Nicht wegen Ihrer Kunstbegeisterung - sondern weil Sie es ihm offen gesagt haben."
In edler Selbsterkenntnis entgegnete Hesse: "So mutig bin ich gar nicht. Ich habe nur nicht immer "yes, Sir" genickt."
Trailshag lachte jungenhaft. "Ein Hasenherz freut sich, wenn es ein anderes findet. Sage ich ihm etwa meine Meinung ins Gesicht? Das hatte ich mir schon am Broadway abgewöhnt." Plötzlich schwand das Lachen aus seiner unbekümmerten Miene. "Ich hätte ihm längst mal eingeheizt, um versetzt zu werden. Aber hier sind zu feine Boys an der Arbeit. Dieser Ede Nemlich mit seinem Team ... Wenn alle so wären ... "
"Ich hoffe, Sie sind mit Bibliothekar und Bibliothek auch nicht unzufrieden", scherzte Hesse.
Trailshag nickte bestätigend. "Aber so andere ... Nominieren den Klee zum Lagersprecher. Brrr. Die Deutschen sind unbelehrbar."
"Bauer würde sagen, das ist weniger eine Nationalitäten-·als eine Klassenfrage", warf Hesse ein.
Nachdenklich wiegte der Corporal den Kopf. "Sehr bestechend, ein bisschen was habe ich auch von Marx gelesen. Um Gods sake, kolportieren Sie es nicht. Dann bin ich hierzulande ein Kommunist, dabei bin ich wirklich keiner. Das steht nicht in Amerika. Der Wohlstand ist zu groß. Gegen den Kommunismus wurde das Land kolonisiert. Die Indianer lebten noch in brüderlicher Urgemeinschaft. Ihre Anspruchslosigkeit und Primitivität waren wenig attraktiv."
"So an den Kommunismus heranzugehen finde ich ebenfalls primitiv", sagte Kuhn.
Unwillkürlich dämpfte Trailshag die Stimme. "Eines ist nicht abzustreiten, nur in den weniger zivilisierten Ländern ist der Kommunismus an die Macht gekommen. Russland ist das beste Beispiel. Das nächste Große wird China sein. Wo die Leute hungern, ist was zu machen. Doch wo die Arbeiter gebrauchte Autos fahren, wollen sie sich fabrikneue kaufen können, aber nicht die alten Chaisen auch noch verlieren."
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