1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 Beunruhigt wartete Hesse am nächsten Vormittag wieder auf Shelter. Von Wuntram wusste er, dass nächstens Lagergeld auf Vorschuss ausgegeben werden sollte. Begann erst der Verkauf, so würde es immer schwieriger werden, die Buchhaltung nachträglich in Ordnung zu bringen. Shelter kam noch später als tags zuvor. Hesse hatte einen Briefumschlag mit der Anschrift des Captains versehen, Edes Aufstellung hineingetan und den Umschlag zugeklebt. Todernst übergab er ihn Shelter. Der riss den Umschlag auf. Dann zerknüllte er die Aufstellung und nahm sie auf die Stiefelspitzen. Er schien gern Fußball zu spielen.
Unbewegten Gesichts fragte Hesse nach den Lieferscheinen. Shelter fing wieder an zu brüllen. Ob Hesse glaube, ein Clark werde in die Kantine gesetzt, um einen Captain zu kommandieren? Auf jede dieser hohntriefenden Fragen erwiderte Hesse: "No, Sir." Als sich die Semmel beruhigt hatte, beging Hesse den unverzeihlichen Fehler, zu erklären, er habe gelernt, eine Buchhaltung habe nur Sinn, wenn sie laufend und korrekt geführt werde. Mit der letzten Lieferung sei das Sortiment um das Doppelte gewachsen, und das Nachtragen werde immer schwieriger.
Shelter stemmte die Arme in die Hüften. Da habe ihn der Mister Hesse also belogen. Oder wer habe erklärt, nicht Buchhalter gelernt zu haben? Bedenklich, bedenklich, ein Clark, der es mit der Wahrheit nicht genau nehme. Hesse wagte richtigzustellen, er habe lediglich an einem Kursus für amerikanische Buchführung teilgenommen.
Schmetternd warf der Captain die Tür hinter sich zu.
Mit einer Art trotziger Schadenfreude setzte sich Hesse beim Mittagessen neben Ede und legte ihm wortlos das Bällchen Knüllpapier hin. Der steckte es gelassen in die Tasche. "Bereits überholt. Die neue Aufstellung ist doppelt so lang."
"Ob lang oder kurz, wenn der Herr über Geld und Kasse sie ignoriert, sind sie Knüllpapier. Aber um gerecht zu sein, noch ist kein Verkauf, die Kantine hat also keinen Überschuss."
Ede blinzelte Hesse über die Brille an. "Bezahlt wird später. Aber wenigstens bestellen muss er das Zeug."
Betroffen fuhr sich Hesse durch das dunkelblonde, leicht wellige Haar. "Hast ja recht - wie immer. Wir müssen die Semmel also überlisten. Aber wie?"
"Aber wie?" wiederholte Ede abwesend und aß so gedankenverloren, dass er auch Yambrei gelöffelt hätte, ohne es zu bemerken. Inmitten des Tellerklapperns und Schurrens, des Summens der Gespräche begann er plötzlich, eilig einen Bleistiftstummel über einen Zettel zu führen. Der Raum leerte sich. Hesse harrte aus, gespannt, was kommen würde. Ede warf den Bleistift hin, begann monoton herunterzurasseln: "Ringe, Bänder, Schnüre, Ketten, / Tücher, Schachteln und Rosetten, / kurze, lange Unterhosen, / Schreibpapier und seltene Dosen, / Hemden, Jacken, Mützen, Hüte, / Mückenschleier jeder Güte, / krumme Stiebel, alte Brillen, / Binden, die den Leib umhüllen, / alles das, was euch nicht sitzt, / wird von uns noch ausgenützt. - Was hälst'n davon?"
"Großartige Gebrauchslyrik."
"Quatschkopp. Das ist der Schluss vom Aufruf der Theatergruppe, die jene Dinge am Sonntagvormittag sammeln wird."
"Und du glaubst, das hat Erfolg?"
"Wir werden einen Fundus kriegen, um den uns jedes Provinztheater beneidet. Aber der Hauptwert des Rundschreibens liegt ganz woanders. Wollen wir wetten, dass mich Shelter in einigen Tagen bittet, ihm endlich die längst fälligen Vorschläge zu unterbreiten?"
Hesse tat, als nähme er die Wette ernst. "Topp - ich wette um einen Schminkkasten für unser Theater, dass der Kabarettabend steigt und ihr noch nicht einen Cent von der Semmel erhalten habt."
Wenige Tage später hatte Hesse die Wette verloren. Wie alle anderen fand er abends auf seinem Bett jenen Aufruf. Obwohl er wusste, wie viel Sympathie Theater und Theaterleute in jedem Lager genossen, hatte er nicht mit einem derartigen Widerhall gerechnet. Kaum einer, der nicht schon jetzt mit einer Revision seiner Habseligkeiten begann.
Der Aufruf landete auch im Headquarter, und der Camp-Commander ließ den Lagersprecher zu sich kommen. Wuntram wisse doch, dass jedes Druck-Erzeugnis genehmigt sein müsse, warum er diesen illegalen Aufruf zugelassen habe? Wuntram betonte, er habe davon nichts gewusst, verbürge sich aber, dass derartiges nicht mehr vorkomme. Das besänftigte des Colonels dienstliches Gewissen, und schon etwas weniger dienstlich erklärte er, diese Lumpensammelaktion sei nicht gerade ehrenhaft für das Lager, warum nicht der zuständige Recreations-Officer um Unterstützung gebeten worden sei?
Captain Shelter habe mehrmals erklärt, das hätte noch Zeit, erwiderte Wuntram. Er durfte gehen und sah, wie der Colonel zum Telefonhörer griff.
Am nächsten Morgen kam Shelter in die Kantine gezetert, wo nur dieser unmögliche Nemlich stecke.
Hesse war versucht, Ede herbeizuschaffen. Im letzten Augenblick bremste er sich. Jetzt suchte die Semmel den Theaterleiter. Das musste man auskosten.
Hesse zog ein Bündelchen Canteen-Bons aus der Tasche, den Vorschuss, den alle bekommen hatten, und zeigte es Shelter. "Würden Sie gestatten, Sir, dass ich mir jetzt eine Tüte Potato-Chips kaufe?"
Der Captain sah Hesse mitleidig an. Ob er ihm mit diesem Trick weismachen wolle, er habe bisher zwischen all dem Kram hantiert, ohne zu probieren? Erschrocken erklärte Hesse, ohne eine scharfe Grenze zwischen eigenem Geld und Kantinenkasse dürfte eine klare Buchführung nicht möglich sein.
Leise zischte Shelter, einer, der an der Quelle sitze und nicht trinke, sei ein Idiot und sei gänzlich untauglich für jedwedes Business.
Hesse tat, als nähme er die Äußerung des Captains für Scherz. In Wahrheit wusste er, dass sich eben etwas entschieden hatte, lieber gleich als später, dachte er. Ich habe schon zu viel erlebt. Dieser geschäftstüchtige Captain ist dagegen ein kleiner Fisch. Allerdings können auch viele kleine Fische ein Fass füllen, bis es überläuft. Doch jetzt muss ich Obacht geben, dass ich die Maßstäbe nicht verliere. Gäbe es nur die Shelters, Amerika wäre für mich nicht das Problem. Deshalb sollten mich die Praktiken der Semmel nicht allzu arg erregen.
Hesse zeigte dem Captain die Warenliste und sagte, den Verkaufspreis der meisten Artikel habe er eingetragen, er stehe bei vielen auf den Verpackungen, es handle sich jetzt hauptsächlich um die Einkaufspreise, die fehlten.
Diesmal lächelte der Captain verdächtig, warf sogar einen Blick auf die sauber getippte Aufstellung. "Kommt noch, mein Söhnchen. Ihr seid alle zu ungeduldig, die Gefangenschaft ist morgen noch nicht zu Ende."
Plötzlich stand Ede in der Kantine. Er habe gehört, der Captain suche ihn. Deshalb sei er vom Lagersprecher, wo sie die Frage seines künftigen Jobs geklärt hätten, sofort hierher geeilt.
Shelter riss die flinken Schweinsäuglein auf. Seines Wissens habe Nemlich doch den Job des Theaterleiters. Außerdem solle er die Verantwortung für die Spielhalle übertragen bekommen, das heißt, für ihre Sauberkeit sorgen und für die Instandhaltung und Umwandlung zu einem Theater und Kino verantwortlich sein. Die Bestuhlung sei bestellt worden, sobald sie installiert sei, würden die ersten Filme anrollen. Das bedeute all diese tausend Dinge organisieren, die Film- und Bühnenkunst benötigten. Und als Director of arts scheine ihm da Nemlich nicht der Falsche.
"Möchte man annehmen, Sir", seufzte Ede beglückt, "können Sie mir darüber ein Papier ausschreiben, falls sich mal ein Gang durchs Lagertor zum Headquarter notwendig macht?"
Das könne der Lagersprecher tun, bemerkte Shelter, er werde dann unterschreiben. Aber wie sei das nun mit dem zusätzlichen Job? Den müsse Nemlich dann wohl wieder abgeben?
Ede zerdrückte eine unsichtbare Träne. Selten ernähre die Kunst ihren Mann. Sie seien drei, alle vom Theater. Wenn sie sich ranhielten, würden sie die bezahlte Arbeit - Ash-and-Trash-Kommando für die GI-Baracken - bis jeweils zum Mittag schaffen.
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