Bauer und Hesse gingen zu ihrer Baracke. Das Gespräch zwischen den beiden Älteren beschäftigte Hesse. Von Bauer wusste er einiges, doch so unumwunden hatte er das noch nicht gehört: Die Kommunisten arbeiten auch mit Schwarzweißroten zusammen, wenn die gegen Hitler sind. Das hieß im extremen Fall, Hesse erkennt seinen Todfeind Malleck als Bundesgenossen an, vorausgesetzt, der kreuzte eines Tages seinen Weg und erklärte, er wäre gegen Hitler. Das aber würde Hesse nie tun können. Also war an Bauers These etwas faul. Es zeigte sich wieder einmal: Politik war eine suspekte Sache. Trotzdem fragte er: "Wieso glaubt Wuntram nicht daran, dass alle Kommunisten für ihn stimmen werden?"
Bauer fuhr sich durch das Haar, und die jungenhafte Gebärde schien im Widerspruch zu seinen grauen Schläfen zu stehen. "Teilfragen werfen Grundfragen auf. Welchen Zipfel du auch anpackst, immer merkst du, dass sich das ganze Tischtuch bewegt. Die SAP sagte, man muss den sozialdemokratischen Arbeitern den Weg nach links erleichtern. Bilden wir zwischen SPD und KPD eine Mittelpartei, so werden wir zum Zentrum der Einheit."
"Eigentlich einleuchtend."
Ungeduldig fuhr Bauer fort: "Die KPD sagte, nicht Parteigründungen helfen gegen den Faschismus, sondern die Aktionseinheit."
"Die Arbeitereinheit haben beide nicht zustande gebracht."
"Ihren Teil Schuld daran trägt auch die SAP."
"Bei so klarer Vorausschau hätten dreiunddreißig eigentlich die Kommunisten siegen müssen, nicht die Nazis."
"Du siehst die Teilstrecke, leider nicht die ganze Fahrt."
Hesse krauste Nase und Stirn, ahmte den Tonfall Bauers nach. "Du lernst und lernst es nicht, dialektisch zu denken."
Bauer musste lachen. "Da hast du schon ein Stück der Antwort, weshalb wir dreiunddreißig nicht gesiegt haben. Seit wir uns kennen, mühe im mich ab, das Misstrauen aus deinem Kopf zu schaffen, das dir eingeflößt ist mit der Muttermilch. Bauer ist gar kein übler Kerl, persönlich ist er mir manchmal sogar sympathisch, aber - leider ist er ein Kommunist ... "
Hesse wollte aufbegehren, doch Bauer herrschte ihn scherzhaft an: "Still, wenn das reife Alter spricht. Aus purem politischem Misstrauen verschweigst du Dinge, die dich quälen. Soll ich dir sagen, warum? Der Bauer verquickt selbst das Persönliche mit der Politik. Und das führt zu Konsequenzen. Konsequenzen sind unbequem."
Bauers Folgerungen waren wirklich unbequem, und Hesse sagte schnell. "Ich weiß nur, dass leider nicht alle Kommunisten so sind wie du. Sonst brauchte Wuntram kaum zu befürchten, dass ... "
"Lass dich nicht verwirren", unterbrach ihn Bauer. "Wuntram bezog sich da auf interne Lagerdinge, meinte die A-Kompanie. Es wäre vorstellbar, dass ihr Kompaniesprecher Zecke aus falsch verstandener Disziplin zusagt, wenn ihn seine Kameraden als Lagersprecherkandidaten vorschlagen."
"Und falls es so kommt?"
Bauer verbarg seine Freude darüber, dass derselbe Heinz Hesse, der ständig gegen die Politik quengelte, so an der Lagerpolitik Anteil nahm. "Dann müssen wir mit ihm sprechen, bis er einsieht, dass es ein Fehler ist." Bauer fand den Jüngeren aufgeschlossener als sonst. "Heute bist du ja noch arbeitslos", sagte er, "hättest du Lust, mir zu helfen?"
Hesse sah es Bauer an, dass dem daran gelegen war, deshalb ging er mit in die Kompanieschreibstube. Als sie dort eintraten, hob der amerikanische Kompanieführer, Captain Bliss, fragend den Kopf. Bliss war ein großer, massiger Mann mit der grauen Bürste des Sechzigers. Störrisch-buschige Augenbrauen und hängende Mundwinkel unter fleischiger Nase erinnerten an das Bild eines Menschenfressers aus dem Märchenbuch. Der handgemalte Spruch über seinem Schreibtisch lautete: Wer gut arbeitet, wird hier die Hölle einer guten Zeit haben.
Bauer meldete korrekt. "Zurück vom Camp-Spokesman, Sir.
Dieser hoffnungsvolle Guy wird ab morgen einen anderen Job haben. Er kann Maschine schreiben und stenografieren, spricht besser englisch als ich. Jetzt will er mir ein bisschen helfen."
Die misanthropischen Falten im Gesicht des Captain blieben, doch seine grauen Augen funkelten erfreut. "Dann geht ran, Boys, und macht alles ordentlich." Als habe Bliss nur auf die Rückkunft Bauers gewartet, schob er den Schreibkram beiseite und stand schwerfällig auf. Scheinbar unwirsch, brummte er, als Bauer ihm die Uniformjacke hielt und die Mütze vom Haken langte. Ohne Gruß verließ er den Raum. Sein bedachtsamer Gang ließ an einen Grizzlybären denken.
"Wie du mich über den grünen Klee gelobt hast", entrüstete sich Hesse.
"Es ist die lautere Wahrheit", verteidigte sich Bauer, "und nützlich, wenn Old Wackelei langsam die fähigen Leute unserer Kompanie kennenlernt."
"Er erinnert wirklich an einen alten Trapper und Fallensteller" fand Hesse.
"Trotz seiner Tücken ist er der beste Captain, dem ich in der ganzen Gegend hinter der Liberty-Statue begegnet bin. In seiner Hochachtung vor der Arbeit ist er beinahe Kommunist."
Hesse zwinkerte mit einem Auge. "Wenn sie andere für ihn tun."
"Ohne den Braunauer und seinen Krieg wäre Old Wackelei schon pensioniert und würde im Susquehanna Lachse angeln."
Sergeant Fulton, der Assistent von Captain Bliss, kam in die Schreibstube. Fulton war weder dick noch dünn, weder groß noch klein. Farblos war sein Haar, und aus Farblosigkeit schien der ganze Mensch gemacht. Er sprach nur, wenn es sein musste, und hatte die Kunst, beim Militär nicht aufzufallen, virtuos entwickelt. Da zwischen seinem Vorgesetzten und der Kompanie ein gutes Verhältnis bestand, bemühte sich Fulton, nicht zu stören. Wäre es anders gewesen, hätte sich Fulton bemüht, auch dabei nicht zu stören.
Nach dem Abendessen zog ein Ereignis die PWs in seinen Sog: Eröffnung der Kantine. Auch Hesse ließ sich dort hintreiben und redete sich ein, nur aus Neugier. In Wahrheit war er nicht abgeneigt, irgendeine Leckerei zu kaufen. Immer hatte er sich geärgert, wenn der Vater ihn ein Süßmaul genannt hatte, und er entschuldigte sich, es käme daher, dass er nicht rauche.
In Massen drängten sich die Kaufwütigen auf dem freien Platz vor der Kantine. Es war fünf nach sieben, und die Kantinentür war noch immer geschlossen. Ein PW legte die Hände um den Mund und rief: "Suling, wach auf, dein Wecker ist stehen geblieben!" Zehn nach sieben setzte ein gellendes Pfeifkonzert ein. Suling erschien, sperrte bewusst langsam die Tür auf und stand mit verschränkten Armen in der Öffnung wie der Besitzer eines Supermarktes. Den Schreienden zeigte er einen Vogel und rief. "Anstellen - sonst wird nichts verkauft!" Wie vor einer Woge schwemmte es ihn hinein, und er musste sich hinter den Ladentisch flüchten, um in der Menge nicht unterzugehen.
Hesse beobachtete amüsiert die Szenen, die sich jetzt auch im Verkaufsraum abspielten.
Kressert trat zu Hesse und zeigte unverhohlene Freude über das missglückte Debüt des neuen Canteen-Clarks. Lachend versicherten sie einander, lieber würden sie noch tagelang auf einen Einkauf verzichten, als sich in das haarsträubende Gedränge zu quetschen. Kressert spielte auf das Gespräch am Nachmittag an. "Wenn die Älteren auspacken, fühle ich mich unbehaglich. Man könnte Angst kriegen, was wir in deutscher Geschichte nachzuholen haben."
Es war Hesse aus dem Herzen gesprochen. Dunkelheit und Kälte waren vergessen, er starrte durch die Tür in die erleuchtete Kantine. Das Bild hatte etwas von einem grellen Stummfilm, der mit einer überlauten Geräuschkulisse unterlegt war. Suling raste wie ein aufgeregtes Eichhörnchen hinter dem Verkaufstisch hin und her.
Hesse wandte sich Kressert zu und versicherte: "SAP, KPD, SPD und Schwarzweißrote, Nationalkomitee und Sektierer, da soll sich einer zurechtfinden. Die Nazis haben aus uns Idioten gemacht. Es ist zum Kotzen. Die ganze Politik ist zum Kotzen."
Kressert verbarg nicht sein Befremden. "Mit dieser Einstellung wirst du dir kaum das nötige politische Wissen aneignen."
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