Nichterzeugter Raum und Leerheit sind beides nichtbestätigende negative Phänomene. Sie haben jedoch unterschiedliche Objekte der Verneinung. Das verneinte Objekt von nichterzeugtem Raum ist behindernder Kontakt. Das verneinte Objekt von Leerheit ist inhärente Existenz. Weil sich nichterzeugter Raum und Leerheit nur in ihren Objekten der Verneinung unterscheiden, ist ein Verständnis von nichterzeugtem Raum so hilfreich, um Leerheit zu verstehen.
Um nichterzeugten Raum zu verstehen, müssen wir zuerst sein verneintes Objekt, behindernden Kontakt, verstehen. Das ist nicht sehr schwierig – sogar Insekten scheinen zu wissen, was das ist. Ein Insekt wird beispielsweise so weit über einen Tisch laufen, wie es den behindernden Kontakt der Tischoberfläche spüren kann. Es wird aber umkehren, wenn es den Rand des Tisches erreicht, weil dort der behindernde Kontakt endet. Es scheint, dass das Insekt weiß, was behindernder Kontakt ist und kann daher auch seine Abwesenheit erkennen. Verstehen wir, was mit behinderndem Kontakt gemeint ist und wissen, dass nichterzeugter Raum einfach seine bloße Abwesenheit ist, sind wir in der Lage, die Bedeutung von nichterzeugtem Raum zu erkennen. Wenn wir Leerheit verwirklichen wollen, müssen wir ebenso zuerst das verneinte Objekt der Leerheit, inhärente Existenz, verstehen. Im Falle der Leerheit des Körpers beispielsweise ist das verneinte Objekt der inhärent existierende Körper – der Körper, den wir normalerweise sehen. Um die Leerheit des Körpers zu verstehen, müssen wir deshalb zuerst mit der Erscheinung und den Merkmalen eines inhärent existierenden Körpers vertraut werden. Erst dann wissen wir genau, welches Objekt durch den Leerheit realisierenden Geist verneint wird. «Inhärent existierende Dinge», «wahrhaft existierende Dinge» und «Dinge, die wir normalerweise sehen» sind Synonyme. Sie sind alle das verneinte Objekt von Leerheit. Wir müssen wissen, dass sie überhaupt nicht existieren.
Ein inhärent existierender Körper wäre ein Körper, der unabhängig von anderen Phänomenen, auch vom ihn erfassenden Geist, existiert. Durch sorgfältige Prüfung entdecken wir, dass unser Körper für uns gegenwärtig auf diese Weise zu existieren scheint. Tatsächlich scheint alles, was dem Geist eines gewöhnlichen Wesens erscheint, zwangsläufig inhärent zu existieren. Aus diesem Grund sind alle Geisteszustände gewöhnlicher Wesen fehlerhaft. Bis wir Leerheit verwirklichen, klammern wir uns mit dem Gedanken «mein Körper, mein Körper» sehr stark an unseren Körper. Der Körper, der unserem Geist in diesem Moment lebhaft erscheint, ist ein inhärent existierender Körper. Unser fehlerhafter Geist glaubt, dass dieser Körper tatsächlich existiert. Infolgedessen klammern wir uns an ihn und entwickeln starke Anhaftung. Dann schätzen wir diesen Körper, sorgen uns um ihn und führen seinetwegen viele Handlungen aus. In Wirklichkeit aber existiert dieser Körper überhaupt nicht. Deshalb ist der Körper, den wir normalerweise wahrnehmen und an den wir uns als «mein Körper» klammern, das verneinte Objekt der Leerheit unseres Körpers. Der Körper, den wir normalerweise wahrnehmen und an den wir uns klammern, existiert nicht. Es ist wichtig, dies zu erkennen.
Obwohl es nirgends einen inhärent existierenden Körper gibt, existiert das allgemeine Bild eines inhärent existierenden Körpers. Ein allgemeines Bild ist das geistige Bild eines Objektes, das unserem begrifflichen Geist erscheint, wann immer wir an dieses Objekt denken. Denken wir beispielsweise an unsere Mutter, erscheint unserem Geist lebhaft ein charakteristisches Bild von ihr. Dieses Bild, das erscheint, ist das allgemeine Bild unserer Mutter. Ein Objekt muss jedoch nicht existieren, damit uns sein allgemeines Bild erscheinen kann. Zum Beispiel kann unserem Geist lebhaft das allgemeine Bild eines Einhorns erscheinen. Obwohl dieses allgemeine Bild existiert, existiert das Einhorn selbst nicht. Genauso erscheint unserem begrifflichen Geist, wann immer wir an unseren Körper denken, ein allgemeines Bild eines inhärent existierenden Körpers, doch ist es ein Bild von etwas, das vollkommen nichtexistent ist. Dennoch müssen wir diesen inhärent existierenden Körper, der das verneinte Objekt ist, genau identifizieren, bevor wir die Leerheit unseres Körpers fehlerlos erkennen können. Deshalb müssen wir durch Meditation gründlich mit dem allgemeinen Bild dieses Körpers, so wie es uns erscheint, vertraut werden.
In philosophischen Schriften des Buddhismus wird erklärt, dass das verneinte Objekt der Leerheit inhärente Existenz ist. Denken wir, dass wir inhärente Existenz verneinen, versäumen es jedoch, den Körper, den wir normalerweise sehen, zu verneinen, haben wir das richtige Objekt der Verneinung nicht gefunden. Das richtige Objekt der Verneinung ist genau der Körper, den wir normalerweise sehen. Sagen wir, dass wir inhärente Existenz verneinen, verneinen aber den Körper, der uns normalerweise erscheint nicht, dann verneinen wir inhärente Existenz bloß «mit dem Mund».
Wenn es heißt, dass der Körper, der uns normalerweise lebhaft erscheint, nicht existiert, könnten einige Menschen dies missverstehen und denken, dass die Existenz der Phänomene ganz und gar verneint wird. Es ist daher sehr wichtig, gründlich und mit durchdringender Weisheit über dieses Thema nachzudenken. Wir müssen das verneinte Objekt von Leerheit genau identifizieren. Wenn das Objekt, das wir verneinen, zu weit gefasst ist, werden wir etwas verneinen, das tatsächlich existiert und in das Extrem der Nichtexistenz fallen. Dies wäre der Fall, wenn wir die Existenz unseres Körpers gänzlich ablehnten. Wenn andererseits das Objekt, das verneint wird, zu eng gefasst ist, werden wir weiter ein gewisses Maß inhärenter Existenz akzeptieren und in das Extrem der Existenz fallen. Verneinen wir beispielsweise einen Körper, der unabhängig von seinen Teilen ist, bejahen aber einen Körper, der seine eigene inhärente Natur besitzt, dann bleibt noch immer ein Objekt übrig, das zu verneinen ist. Wir sind in das Extrem der Existenz gefallen.
Die fehlerlose Sicht der Leerheit vermeidet beide Extreme. Deshalb wird Leerheit der «mittlere Weg» genannt. Das Extrem der Nichtexistenz wird vermieden, weil die richtige Sicht der Leerheit die Existenz von Phänomenen akzeptiert, die in Abhängigkeit von einer gültigen Grundlage der Zuschreibung bloß zugeschrieben werden. Das Extrem der Existenz wird vermieden, weil die richtige Sicht der Leerheit alle Spuren von inhärenter, unabhängiger Existenz verneint. Wenn wir Leerheit klar und fehlerlos begreifen wollen und schon ein grundlegendes Verständnis der buddhistischen Lehre besitzen, dann ist es sehr wichtig, auf dieser Grundlage Reinigung und die Ansammlung von Verdiensten zu praktizieren. Haben wir unseren Geist auf diese Weise vorbereitet und studieren und meditieren fortwährend über Leerheit, dann besteht große Hoffnung, eine korrekte Verwirklichung von Leerheit zu erlangen.
Obwohl wir danach streben, eine neue Verwirklichung von Leerheit zu entwickeln, sollten wir verstehen, dass Leerheit selbst keine neue Entwicklung oder Neuschöpfung ist. Sie ist weder ein Produkt philosophischer Analysen noch eine Erfindung Buddhas. Leerheit war von Anfang an die eigentliche Natur aller Phänomene. Unser Körper zum Beispiel war immer leer von inhärenter Existenz. Zu keinem Zeitpunkt existierte unser Körper oder irgendetwas anderes inhärent. Obwohl Leerheit immer die wahre Natur der Phänomene gewesen ist, müssen wir Anleitungen erhalten, um dies zu erkennen. Aus diesem Grund lehrte Buddha die Sutras der Vollkommenheit der Weisheit.
Es ist wichtig für uns danach zu streben, die Leerheit der Phänomene zu verstehen, weil alle Probleme und Leiden, die wir und andere Lebewesen erfahren, aus dieser falschen Sicht der Wirklichkeit stammen. Durch unsere Unwissenheit in Bezug auf die wahre Natur der Phänomene entwickeln wir den begrifflichen Geist, der meint, dass die Phänomene inhärent existieren. Dieser Geist wird das «Festhalten am Selbst» genannt, da er die Phänomene erfasst oder festhält, als ob sie ein inhärent existierendes Selbst oder eine inhärent existierende Identität besitzen würden. Der am Selbst festhaltende Geist verursacht alle anderen Verblendungen wie Wut und Anhaftung und ist die grundlegende Ursache allen Leidens und aller Unzufriedenheit. Deshalb müssen wir unser Festhalten am Selbst aufgeben, wenn wir frei von Leiden sein wollen.
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