Ein anderes Beispiel, das oft gebraucht wird, um die Bedeutung der Leerheit zu illustrieren, sind unsere Träume. Wenn wir träumen, können wir äußerst lebhafte Erfahrungen machen. Wir reisen vielleicht in exotische Länder, treffen schöne oder furchteinflößende Menschen, tun viele verschiedene Dinge und erleben infolgedessen großes Vergnügen oder Leiden und Schmerz. In unserem Traum erscheint uns eine ganze Welt, die auf ihre eigene Weise funktioniert. Diese Welt kann der Welt unseres Wachzustandes ähnlich oder auch sehr bizarr sein. In jedem Fall aber erscheint sie uns, solange wir träumen, als ganz real. Sehr selten hegen wir auch nur den leisesten Verdacht, dass das, was wir erfahren, nur ein Traum ist. Die Welt, in der wir in unserem Traum leben, scheint ihre eigene Existenz zu haben, völlig unabhängig von unserem Geist. Und wir reagieren auf sie in unserer gewohnten Art mit Begierde, Wut, Angst und so weiter.
Prüfen wir, während wir träumen, ob die Welt die wir erleben wirklich ist oder nicht, indem wir beispielsweise auf die Objekte um uns herum klopfen oder die Menschen in unserem Traum befragen, erhalten wir wahrscheinlich eine Antwort, die die Wirklichkeit unserer Traumumgebung bestätigt. Tatsächlich aber ist der einzig sichere Weg zu wissen, dass wir geträumt haben, aufzuwachen. Dann begreifen wir augenblicklich und ohne jeden Zweifel, dass die Welt, die wir in unserem Traum erlebt haben, täuschend war und bloß unserem Geist erschienen ist. Wenn wir einmal wach sind, ist es ganz klar, dass das, was wir in einem Traum erfahren haben, nicht von seiner Seite her existierte, sondern vollständig von unserem Geist abhängig war. Wenn wir beispielsweise von einem Elefanten träumen, ist der «Traumelefant» lediglich eine Erscheinung unseres Geistes. Er kann weder in unserem Schlafzimmer noch sonst wo gefunden werden.
Wenn wir es sorgfältig prüfen, werden wir erkennen, dass unsere Welt des Wachzustandes auf ähnliche Weise wie unsere Traumwelt existiert. Wie die Traumwelt erscheint uns die Welt des Wachzustandes auf lebhafte Weise und scheint ihre eigene Existenz zu haben, unabhängig von unserem Geist. Genau wie im Traum glauben wir, dass diese Erscheinung wahr ist und reagieren darauf mit Begierde, Wut, Angst usw. Auch werden wir eine scheinbare Bestätigung unserer Sichtweise erhalten, wenn wir unsere Welt des Wachzustandes oberflächlich prüfen, wie wir es bei der Traumwelt taten, um zu sehen, ob sie tatsächlich auf die Weise existiert, wie sie uns erscheint. Klopfen wir auf die Objekte um uns herum, werden sie ganz fest und wirklich erscheinen und wenn wir andere Menschen fragen, werden sie sagen, dass sie die gleichen Objekte auf die gleiche Weise sehen wie wir. Wir sollten jedoch diese scheinbare Bestätigung der inhärenten Existenz von Objekten nicht als eindeutigen Beweis betrachten, da wir wissen, dass eine ähnliche Prüfung die eigentliche Natur unserer Traumwelt nicht enthüllen konnte. Um die wahre Natur unserer Welt des Wachzustandes zu verstehen, müssen wir sie untersuchen und eingehend darüber meditieren, indem wir die oben beschriebene Art der Analyse anwenden. Erkennen wir auf diese Weise Leerheit, verstehen wir, dass Objekte, wie zum Beispiel unser Körper, nicht von ihrer Seite her existieren. Sie sind wie der Traumelefant bloße Erscheinungen unseres Geistes. Dennoch funktioniert unsere Welt nach ihren eigenen scheinbaren Regeln in Übereinstimmung mit den Gesetzen von Ursache und Wirkung, genau wie unsere Traumwelt auf ihre eigene Weise funktioniert.
Die Erfahrung der Verwirklichung von Leerheit wird deshalb mit dem Aufwachen verglichen. Wenn wir Leerheit einmal verwirklicht haben, sehen wir klar und ohne jeden Zweifel, dass die Welt, wie wir sie zuvor erfahren haben, täuschend und falsch war. Sie schien ihre eigene inhärente Existenz zu haben. Doch wenn wir Leerheit verstanden haben, erkennen wir, dass die Welt vollkommen leer von inhärenter Existenz ist und von unserem Geist abhängt. Tat- sächlich wird Buddha manchmal «der Erwachte» genannt, weil er aus dem «Schlaf» der Unwissenheit erwacht ist.
In den Schriften Buddhas wird Leerheit oftmals mit Raum verglichen. Wir sagen, wir sehen Raum, aber wir prüfen normalerweise nicht, welche Art von Raum das ist. Wir sind mit dem bloßen Namen «Raum» zufrieden. Untersuchen wir, was wir tatsächlich sehen, wenn wir sagen, wir sehen Raum, werden wir nichts finden können – er ist einfach leer. Ebenso werden wir, wenn wir nicht mit dem bloßen Namen «mein Körper» zufrieden sind und herausfinden wollen, welche Art von Körper wir sehen, entdecken, dass wir unseren Körper überhaupt nicht sehen können. Unser Körper ist auch leer, wie Raum.
Obwohl wir über leeren Raum sprechen, ist der leere Raum, den wir normalerweise meinen, nicht dasselbe wie die Leerheit unseres Körpers. Dennoch ist leerer Raum das beste Beispiel, das uns hilft, die Bedeutung der tiefgründigen Leerheit zu verstehen. Deshalb müssen wir klar verstehen, was Raum ist.
Es gibt zwei Arten von Raum: erzeugter Raum und nichterzeugter Raum. Erzeugter Raum ist der sichtbare Raum, den wir in einem Zimmer oder am Himmel sehen. Dieser Raum kann nachts dunkel und tagsüber hell werden. Da er auf diese Weise Veränderungen unterworfen ist, ist er ein unbeständiges Phänomen, er ist sichtbar für uns. Nun ist es die charakteristische Eigenschaft erzeugten Raumes, keine Objekte zu behindern. Wenn es Raum in einem Zimmer gibt, können wir dort unbehindert Dinge hinstellen. Ebenso können Vögel unbehindert durch den leeren Himmelsraum fliegen, jedoch nicht durch einen Berg! Deshalb können wir sagen, dass erzeugtem Raum behindernder Kontakt fehlt oder dass er leer davon ist. Dieses bloße Fehlen von behinderndem Kontakt ist nichterzeugter Raum. Da nicht- erzeugter Raum die bloße Abwesenheit von behinderndem Kontakt ist, ist er keinen momentanen Veränderungen unterworfen und deshalb ein beständiges Phänomen. Während erzeugter Raum sichtbar und einfach zu verstehen ist, ist nichterzeugter Raum eine bloße Abwesenheit und um einiges subtiler. Sobald wir jedoch nichterzeugten Raum verstanden haben, wird es für uns einfacher sein, Leerheit zu verstehen.
Nichterzeugter Raum ist ein negatives Phänomen. Ein negatives Phänomen ist ein Phänomen, das durch den Geist, der dieses Phänomen erfasst, verwirklicht wird, indem das verneinte Objekt des Phänomens ausdrücklich beseitigt wird. Im Fall von nichterzeugtem Raum ist das verneinte Objekt behindernder Kontakt und Raum wird durch einen Geist erkannt, der dieses verneinte Objekt ausdrücklich beseitigt. Ferner ist nichterzeugter Raum ein nichtbestätigendes negatives Phänomen. Das bedeutet, dass nichterzeugter Raum durch die Beseitigung des verneinten Objekts von einem Geist erkannt wird, ohne dass der Geist ein anderes positives Objekt erfasst. Der Geist, der nichterzeugten Raum erkennt, verneint behindernden Kontakt, bestätigt jedoch kein anderes Phänomen. Im Gegensatz dazu gibt es Phänomene, die bestätigende negative Phänomene sind. Ein bestätigendes negatives Phänomen ist ein Phänomen, das durch einen Geist erkannt wird, der das verneinte Objekt des Phänomens ausdrücklich beseitigt und indirekt ein positives Phänomen erkennt. Ein Beispiel eines bestätigenden negativen Phänomens ist das «Nichtweiblichsein meines Vetters». Der Geist, der erkennt, dass mein Vetter nicht weiblich ist, erkennt indirekt, dass mein Vetter männlich ist. Nichterzeugter Raum andererseits impliziert kein positives Phänomen; er ist die bloße Abwesenheit von behinderndem Kontakt.
Wie nichterzeugter Raum ist jede Leerheit ein nichtbestätigendes negatives Phänomen. Die Leerheit unseres Körpers beispielsweise ist das bloße Fehlen oder die bloße Abwesenheit des Körpers, den wir normalerweise sehen, des inhärent existierenden Körpers. Kein anderes Objekt wird im Gegenzug erkannt. Der Geist, der die Leerheit unseres Körpers erkennt, beseitigt bloß das Objekt der Verneinung, ohne irgendein positives Phänomen zu erkennen. Das nichtbestätigende negative Phänomen, das die bloße Abwesenheit des Körpers ist, den wir normalerweise sehen, ist die Leerheit unseres Körpers.
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