1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 „Ich spüre deine Gefühle“ , sprach Wal-Freya sie in der Gedankensprache an.
„Sie ist so ein wundervoller Mensch, die beste Mutter, die man sich wünschen kann und die ich jemals hatte. Ich fühle mich nicht gut dabei, sie so zu hintergehen“ , erwiderte Thea.
Wal-Freya seufzte tief. Sie kniete neben der Couch nieder, malte eine Rune auf Frau Helmkens Stirn und hob dann die Hand darüber. Während sie Worte in einer fremden Sprache murmelte, bildete sich rosa Nebel unter ihren Fingern, der sich schließlich senkte, um Frau Helmkens Augen und Nase waberte und mit ihrem nächsten Atemzug verschwand. Langsam streckten sich ihre Beine, ihr Brustkorb hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen.
Wal-Freya stand auf. „Jetzt schnell. Es wird nicht lange brauchen, bis sie erwacht.“
Thea küsste ihre Mutter sanft auf die Stirn, verabschiedete sich und eilte Wal-Freya und Tom nach. Mit einem letzten Blick zurück zog sie die Haustür zu.
Im Dämmerlicht des anbrechenden Tages liefen Thea, Tom und Wal-Freya durch die Straßen, geradewegs auf den Park zu, in dem sich Thea und Wal-Freya das erste Mal begegnet waren. Der Katzenwagen der Walküre stand zwischen einer Ansammlung von hohen Kastanien. Schon von Weitem erkannte Thea Bygul und Trjegul, die beim Näherkommen der Walküre aufgeregt maunzten. Tom folgte Wal-Freya dicht auf dem Fuß, Thea allerdings verharrte für einen Moment. Neben den Katzen machte sie weitere Tiere aus. Sie lagen vor einem zweiten, roten, mit goldenen Knotenmustern verzierten Streitwagen und hoben aufmerksam die Köpfe. Es waren zwei Wölfe. Einer von ihnen besaß Fell schwarz wie die Nacht, nur um seine Nase reihten sich ein paar weiße Härchen. Hell und unheimlich stachen seine silbergrauen Augen hervor. Der andere, weiß wie Schnee und mit dunklen Augen und Nase, gab ein warnendes Knurren von sich. Neben den Tieren, an einem Baum gelehnt, stand eine behelmte Person. Links und rechts der Brillenmaske bändigten zwei braune Zöpfe das Haar, welches auf breite Schultern floss. Ein gestutzter Vollbart umrahmte Lippen und Kinnlinie. Die Pluderhose des Mannes war von den Knien ab bis zu den Stiefeln von einem groben Lederriemen zusammengerafft. Über einer dicken Tunika und unter einer kunstvollen Lederrüstung blitze ein Teil des kurzärmligen Kettenhemdes hervor. Vor dem Bauch baumelte ein Dolch, an der rechten Seite ein Schwert in einer verzierten Lederscheide. Die linke Hand des Mannes war von einem Lederhandschuh umschlossen und steckte in seinem Gürtel. Dort, wo die rechte Hand sein sollte, war nur ein Stumpf. Thea erkannte ihn wieder. Es war Tyr, Kriegsgott und Beschützer der Thing-Versammlung. Er löste sich aus seiner Position. Die blauen Augen hinter seinem Brillenhelm musterten Tom verdutzt.
„Juli hat sich sehr verändert“, kommentierte er trocken.
„Planänderung“, erwiderte Wal-Freya einsilbig. „Wir müssen nach Wallhall. Der Junge fährt mit!“
Sie sprang auf den Wagen und hob das Kinn auffordernd in Theas Richtung. Das warnende Knurren der Wölfe ließ Thea jedoch zögern.
„Psst! Das sind Freunde, Hugrakkir!“, erwiderte Tyr. Der schwarze Wolf schaute zurück, stand auf und wedelte verhalten mit dem Schwanz.
„Hallo Tyr“, grüßte Thea verzagt.
„Ich freue mich, Thea“, erwiderte der Kriegsgott. Seine Lippen umspielte ein Lächeln.
„Sind das deine Wölfe?“, fragte sie.
Tyr wog den Kopf. „ Deine “, wiederholte er abwägend. „Sie sind ebenso wenig meine, wie ich der ihre bin. Wir sind Gefährten. Der schwarze ist Hugrakkir, der weiße Vinur.“
Thea erhob die Hand zu einem Gruß. „Hallo Hugrakkir und Vinur.“
Tyr lachte. Er trat vor die beiden Tiere und ging in die Knie. Als diese ihn mit Kopf und Pfote anstießen, wuschelte er ihnen das Fell.
„Wallhall? Wozu?“, fragte Tyr währenddessen und sah zu Wal-Freya, die die Zügel bereits in der Hand hatte.
„Tom glaubt, Fenrir sei nach Hause gelaufen …“
„Nach Wallhall?“ Tyr lachte. „Du bist von Sinnen, Wal-Freya!“
Die Walküre blickte finster. „Nicht nach Wallhall! Zu Angrboda, seiner Mutter. Wir müssen das mit Odin besprechen. Tom könnte recht haben.“
Tyr stand auf. „Und die Spur?“
„Vielleicht eine falsche Fährte!“, antwortete Tom.
Der Kriegsgott stieß einen abschätzenden Laut aus und betrachtete Tom mit einer Mischung aus Skepsis und Zustimmung.
„Zumindest würde es erklären, warum wir sie so plötzlich verloren haben“, erwiderte Wal-Freya und nahm die Zügel in die Hand.
Tyr seufzte tief. „Wer sollte dazu fähig sein?“ Kaum hatte er die Frage gestellt, weiteten sich seine Augen. „Nein! Unmöglich!“
Die Walküre winkte Thea ungeduldig heran. „Das Wort ,unmöglich‘ in den Mund zu nehmen und dabei gleichzeitig an Loki zu denken, ist ein Widerspruch, Tyr!“
Zögernd trat Thea an Wal-Freya heran, ohne dabei die beiden Wölfe aus den Augen zu lassen. Das Knurren der Tiere weckte Theas Argwohn. Aber sie schenkten ihr keine Beachtung mehr.
„Ich kann dieser Art zu reisen noch immer nichts abgewinnen“, verkündete sie, als sie auf dem Wagen hinter der Wanin stand.
„Es ist völlig ungefährlich“, versicherte Wal-Freya.
„Das wird an dem Gefühl trotzdem nichts ändern“, erwiderte Thea, umklammerte Wal-Freyas Taille und presste ihr Gesicht in deren Umhang.
„Ich fühle mich an Niflheim erinnert“, raunte die Walküre und tätschelte sanft Theas Hände.
Tom deutete staunend auf die Gespanne. „Wir fahren damit nach Asgard? Ich dachte, das liegt in den Wolken!“
„Du wirst dich noch wundern!“, prophezeite Thea. „Mach dich auf etwas gefasst! Es ist abartig!“
„Vielleicht lasse ich dich irgendwann einmal selbst fahren, dann wirst du sehen, dass gar nichts dabei ist“, versuchte Wal-Freya Thea aufzumuntern. Sie lachte und gab Bygul und Trjegul den Befehl, loszufahren.
Begleitet von einem Ruck sprangen die Katzen voran. Thea spürte das unangenehme Ziehen in ihrem Magen und packte Wal-Freya fester, worauf sich die Stimme der Walküre in ihrem Geist bemerkbar machte. „ Vergiss bitte nicht, dass auch ich atme “, scherzte sie.
„ Entschuldige!“ , antwortete Thea und lockerte den Griff.
„Schau dich um, es ist nichts dabei“, forderte Wal-Freya sie auf.
„Ich hab das schon gesehen“, erwiderte Thea und kniff die Augen sogar noch fester zu. Alleine der Gedanke daran, die sich entfernende Erde zu beobachten, trieb ihr einen Schauer über den Rücken.
Wal-Freya lachte. „Du musst vergessen haben, wie schön es ist, die Welt von oben zu sehen. Los Bygul und Trjegul! Ihr wisst, dass Tyr schneller ist als wir!“
Thea hob ein Augenlid und öffnete rasch das zweite, als sie das Nordlicht vor dem schwindenden Nachthimmel entdeckte. Freude überkam sie. Es schien so lange her, dass sie die Winternächte mit diesem Anblick verbracht hatte. Nein! Es war lange her. Um genauer zu sein, viele Jahrhunderte. Wehmut überkam sie. Das Nordlicht mit all seinem Zauber und seiner Schönheit war stets ein Teil in ihrem Leben als Fengur gewesen. Das Zusammenspiel der grünen und roten Farben vor dem schwarzen Hintergrund zog sie in eine ferne Zeit, weckte Erinnerungen an längst vergangene Freunde und an eine Familie, die einst ihre eigene gewesen war. Was mochte aus ihnen geworden sein? Aus Geirunn, Fengurs Frau. Der Schmied hatte sie sein ganzes Leben lang vergöttert. Stolz war er auf seinen Sohn Hakon gewesen, der ihm später in der Schmiede half. Und da war noch Amma gewesen, seine kleine Tochter, die zu einer mutigen und tüchtigen Frau herangewachsen war. Enkel, die er liebte wie seine eigenen Kinder …
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