“Sicher”, bestätigte Lionel, “es fiel mir nur gerade so auf.”
Es entstand eine Pause. Philip überlegte allerdings fieberhaft, wie er Thomas unauffällig aus dieser Runde heraus manövrieren konnte. Denn er befürchtete, dass sich der Richter gleich nicht mehr beherrschen konnte. Nur leider war für die Männer in der Runde die Frage noch nicht geklärt, warum Thomas in einer persönlichen Angelegenheit nach Venezuela fahren wollte und warum diese Sache so dringend war, dass sie keinen Aufschub duldete.
Deshalb beschloss Thomas, eine möglichst neutrale und gleichzeitig plausible Erklärung abzugeben.
“Ich muss eine persönliche Angelegenheit mit meinem Bruder bereden”, entgegnete er, “und möglicherweise kann es bald dafür zu spät sein. Das würde ich mir nie verzeihen.”
“Das klingt ja beinahe so, als ginge es um Leben und Tod”, befand einer der Männer, “irgendwie erinnert einen das schon an Indiana Jones, auch wenn man das natürlich nicht vergleichen kann, wie unser Bürgermeister schon sagte.”
Damit nicht noch mehr Vergleiche gezogen werden konnten, leitete Philip jetzt möglichst schnell die “Verabschiedungssequenz” ein.
“Meine Herren”, meinte er, “Sie mögen uns verzeihen, aber uns ruft die Pflicht! Ich denke, Sie werden uns sicher entschuldigen, wenn wir etwas früher aufbrechen!”
“Aber sicher”, entgegnete der Bürgermeister, “wir haben Verständnis für Ihren vollen Terminkalender.”
“Tja, auch wenn es schade ist, Thomas, dass wir uns an diesem Wochenende nicht treffen können”, fügte Peter noch an, “so bleiben Sie doch mein Wunschkandidat für das Amt des Bundesrichters. Ich werde sehen, was sich machen lässt.”
“Vielen Dank”, erwiderte Thomas sichtlich beeindruckt, “das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich fühle mich außerordentlich geehrt.”
Thomas und Philip verabschiedeten sich kurz und verließen den “Ort des Grauens”. Auf dem Nachhauseweg nahmen sie sich gemeinsam ein Taxi, da sie relativ nahe beieinander wohnten. Thomas schwieg fast die ganze Zeit über, nur manchmal brummte er irgendwelche unverständlichen Schimpfworte vor sich hin.
Als Philip, der den kürzeren Weg hatte, aussteigen musste, meinte Thomas: “Danke, dass Sie uns da herausgeholt haben. Ich frage mich immer wieder, wie solch taktlose Leute in so hohen politischen Positionen sein können, wenn man mal von diesem Peter absieht!”
“Tja, da haben Sie Recht”, erwiderte Philip, “ich empfand einige der Anwesenden als sehr indiskret und die Vergleiche unpassend. Also dachte ich mir, dass es wohl besser wäre, zu verschwinden.”
“Allerdings!”, meinte Thomas gequält, “und ich weiß nicht, was es da für einen Zusammenhang mit dem Besuch bei meinem Bruder und dieser Indianergeschichte gibt.”
“Welche Indianergeschichte?!”, erwiderte Philip irritiert.
“Na, die haben mich doch mit einem Indianer namens Jones verglichen, der auf irgendwelche Abenteuerreisen geht!”, erregte sich Thomas.
Philip musste sich schwer zusammennehmen, um nicht loszulachen, als er antwortete: “Oh ja, ja natürlich.”
Oh weh, dachte Philip, Thomas kennt diese Filmfigur wirklich nicht. Allerdings ist es auch sehr gut, dass Thomas nicht den Vornamen seines Bruders genannt hat. Denn dann wären bestimmt einem der Männer diese Zeichentrickfiguren Tom & Jerry eingefallen, und dabei ist ja Kater Tom der Trottel und Verlierer. Also dann schon lieber mit Indiana Jones bzw. Harrison Ford verglichen werden. Der ist schließlich ein geschickter und charmanter Mann.
“Na ja, wir haben es mit Anstand hinter uns gebracht, Thomas”, fuhr Philip fort, “erholen Sie sich ein bisschen heute Abend, und denken Sie nicht mehr an diese Nervensägen. Wir sehen uns dann morgen im Büro!”
Philip wollte schon gehen, als Thomas ihn zurückrief.
“Philip”, raunte er ihm zu, “meinen Sie, die sind misstrauisch geworden?!”
“Wegen der Reise nach Venezuela?”, fragte Philip.
“Hm...”
“Ach nein, das glaube ich nicht”, beruhigte Philip seinen Kollegen.
“Dann ist es ja gut”, seufzte Thomas erleichtert, “einen schönen Abend und nochmals danke!”
Als Thomas nach Hause kam, saßen seine Frau und seine Tochter bereits in der Küche beim Abendbrot. Thomas schloss auf, sah sich missmutig um und gab der Tür einen ziemlich heftigen Schubs, so dass sie krachend ins Schloss fiel. Er quetschte sich ein “hallo” heraus und ging geistesabwesend in sein häusliches Arbeitszimmer, um nach der Post zu schauen. Da er auch nach geraumer Zeit nicht zum Essen erschien, schickte Martha ihre Tochter los, um nachzuschauen, wo der Vater bliebe, und um ihn an den Tisch zu holen.
Sophie erhob sich wenig erfreut, denn sie ahnte, dass der Vater schlechte Laune hatte. Normalerweise kam er sofort an den Tisch, weil er Verspätungen bei den gemeinsamen Mahlzeiten hasste. Und er musste doch gemerkt haben, dass das Essen bereits fertig war.
Kurze Zeit später erschien sie wieder in der Küche, aber ohne Thomas.
“Was ist los?”, fragte die Mutter, “wo bleibt er denn? Hast du ihm nicht gesagt, dass das Abendbrot fertig ist?!”
“Doch”, entgegnete Sophie, “aber er hat heute megaschlechte Laune. Kommt mir vor wie ein Pharisäer, der versucht hat, Jesus mit ‘ner hinterhältigen Frage zu linken und dabei von Jesus langgemacht wurde zur Belustigung des erstaunten Publikums (Die Bibel, NT, z. B. Evangelium nach Lukas, Kap. 20, Verse 1 – 8 und 20 – 10). Ganz dicke Luft!”
“Sophie, du sollst doch nicht in so einer Art und Weise über biblische Inhalte sprechen. Ein bisschen mehr Respekt vor dem Wort Gottes wäre angemessen. Außerdem hat sich Jesus nie über andere Leute lustig gemacht. Er war immer voller Barmherzigkeit und Liebe und...”
“Das hab ich auch nicht behauptet, dass Jesus sich über andere lustig gemacht hat. Aber er hat seinen Zeitgenossen schon die Wahrheit auf’s Brot geschmiert. Was glaubst du, warum die derart sauer auf ihn waren?! Wenn Jesus heute leben würde, hätte er noch ganz andere Sprüche drauf. Also hab dich nicht so!”, rechtfertigte sich Sophie.
“Wie redest du eigentlich mit deiner Mutter?!”, empörte sich Thomas, der gerade im Türrahmen erschien. Martha hatte gerade zu einer ähnlichen Rüge angesetzt, aber ihr Mann war ihr zuvorgekommen.
“Ach Leute, seid doch nicht so humorlos!”, meinte Sophie, “hab’s doch nicht böse gemeint. Sorry, Mama, ich wollte dich nicht verletzen!”
Sie hatte sich entschlossen, besser ein wenig einzulenken, weil die Stimmung des Vaters eh schon schlecht genug war. Und sie musste ja keine Eskalation der Lage herbeiführen.
“Na, das wollte ich aber auch gemeint haben”, ranzte Thomas sie an und ließ sich erschöpft auf seinen Stuhl fallen, “was gibt’s denn heute Schönes, Schatz?!”, meinte er fragend in Marthas Richtung.
“Lasagne al forno mit Gorgonzola überbacken”, kam es aus der Nähe des Backofens.
Oh nein, dachte Thomas, heute bleibt mir aber auch nichts erspart. Ein Nudelgericht! Und dazu noch mit diesem elenden stinkenden Käse überbacken.
Aber laut sagte er: “Na, da bin ich ja mal gespannt.”
Er wollte Martha nicht verletzen und außerdem gar nicht erst Diskussionen über den Speisenplan aufkommen lassen, denn sonst würde es noch soweit kommen, dass Sophie ständig meuterte, weil es zu wenig Rohkost gab. Normalerweise machte Martha “anständiges” Essen, nur ab und zu kam so ein Nudelfraß auf den Tisch. Sie liebte die italienische Küche. Da konnte man nichts machen.
“Na, wie war dein Tag?”, erkundigte sich Martha, während sie ihm eine große Portion auf den Teller schob.
Thomas dachte: Oh, bitte nicht so viel. Mir ist der Appetit sowieso schon vergangen.
“Eigentlich ganz gut”, seufzte Thomas, “um genauer zu sein, er hätte perfekt werden können, wenn nicht... hach, nichts weiter.”
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