1 ...6 7 8 10 11 12 ...38 Sally sah Maggie an, als habe der Großinquisitor persönlich sie vorgeladen. Und laut sagte sie: “Ja, selbstverständlich, ich komme sofort.”
Fünf Minuten später stand Sally wieder im Vorzimmer, und ihre Augen leuchteten.
“Maggie, es geschehen noch Zeichen und Wunder. Er will nach Venezuela fliegen! Diese Woche noch! Nimmt sich privaten Urlaub. Ich soll ihm einen Flug und ein Hotel in Cumaná buchen. Und jetzt rate mal, warum...”
Maggie sah ihre Kollegin an, als habe es gedonnert.
“Sag das nochmal”, meinte sie wie durch einen Nebel.
“Er will nach Venezuela fliegen, um eine persönliche Angelegenheit zu regeln und nimmt ganz privat Urlaub”, wiederholte Sally, “keine Dienstreise, sondern ein privater Besuch! Und jetzt kommt’s: Er will sich mit seinem Bruder versöhnen. Er meinte, er habe so ein schlechtes Gewissen, und er könnte es nicht mehr ertragen, dass sie so verfeindet wären. Das müsse man doch bereden können, was damals schiefgelaufen sei. Vielleicht wäre ja auch alles nur ein großes Missverständnis gewesen.”
“Woher kommt denn dieser plötzliche Sinneswandel?”, fragte Maggie kopfschüttelnd, “ich meine, wir wissen doch alle, dass die beiden sich zum Fressen gern haben genau wie die Zeichentrickfiguren Tom & Jerry. Normalerweise durfte man den Namen seines Bruders ja noch nicht mal in seiner Gegenwart erwähnen, dann flippte er schon aus.”
“Vielleicht liegt es auch daran, dass er sich auf diese Stelle des Obersten Bundesrichters bewirbt und beim Präsidenten bzw. den Leuten auf dem Empfang heute Nachmittag Eindruck schinden will”, mutmaßte Sally, “ich meine, hier in New York, da ist es egal, ob der Herr Richter ein übellauniger Kerl ist. Und außerdem sitzt er schon viel zu fest im Sattel, war bisher sehr erfolgreich. Da sägt keiner an Dr. Gnadenlos’ Stuhl wegen einer kleinen Familienfehde. Aber wenn man in ein so hohes Verfassungsorgans will, macht es sich nicht gut, wenn man im Streit mit seinem einzigen Bruder lebt, wo in unserem lieben Heimatland die Familie einen derart hohen Stellenwert hat.”
“Damit könntest du Recht haben”, fand Maggie, “obwohl... wer weiß schon, ob Jeremiah sich mit ihm versöhnen will?!”
“Wenn nein, kann Dr. Gnadenlos aber immer noch behaupten, es sei die Schuld seines Bruders, dass der Streit nicht beigelegt werden konnte.”
“Auch wieder wahr.”
Es entstand eine Pause.
“Aber was war mit Philip?”, meinte Maggie plötzlich und sah Sally irritiert an, “er kam doch völlig verstört aus dem Büro. Sonst hatte er immer noch ein freundliches Wort für uns oder hat einen Witz erzählt oder sonst irgendwas Nettes gemacht. Aber eben hat er uns noch nicht einmal beachtet. Als ob wir Luft wären!”
“Vielleicht hat Dr. Gnadenlos ihm das mit der Versöhnungsaktion auch erzählt, und Philip konnte es einfach nicht glauben”, erwiderte Sally achselzuckend.
“Das erklärt aber nicht, warum Philip vor sich hin gemurmelt hat ‘Er hat den Verstand verloren!’. Da steckt noch was anderes dahinter”, beharrte Maggie.
“Du hättest Detektiv werden sollen, Maggie!”, bemerkte Sally langsam ungehalten, “aber soll ich dir mal was sagen? Es ist mir egal, warum Philip so verstört war. Hauptsache, McNamara macht mal was Positives. Klar, es ist alles sehr sonderbar, aber ich finde, wir sollten uns einfach mal über so eine Sache freuen. Und obendrein bin ich heute nicht in der Stimmung, die Ursache dieses Sinneswandels zu ergründen. Ich werde jetzt die Buchungen für ihn vornehmen.”
“Such ihm was Hübsches raus”, stichelte Maggie.
“Ich werde schon was finden, womit Dr. Pingelig zufrieden ist. Oder willst du das lieber machen, Maggie, du kennst seine Unarten und Vorlieben schon etwas länger als ich!”
“Nein, mach du das mal. Erstens hast du es in letzter Zeit immer gemacht, deshalb hat er auch dich zu sich reingerufen, und zweitens bekommst du dann den Abriss, wenn er was zu beanstanden hätte”, meinte Maggie mit ihrem süßesten Lächeln.
“Wenn ich nicht wüsste, dass du meine Freundin bist, würde ich jetzt...”, Sally hob scherzhaft drohend einen Ordner hoch.
“Na, was würdest du tun, Sally?”, Maggie amüsierte sich köstlich, “würdest du den Aktenordner nach mir werfen?!”
“Genau”, schnaubte Sally grinsend, “aber jetzt werde ich die Buchungen vornehmen. Sei stille, und stör mich nicht, hörst du?!”
“Ich bin ganz ruhig, mucksmäuschenstill!”
Pünktlich um 16.00 Uhr erschien Philip in Thomas’ Vorzimmer. Sally sagte ihrem Chef Bescheid, dass sein Kollege jetzt da sei.
“Ja, ich komme”, entgegnete Thomas, warf sich sein Jackett über und verließ sein Büro.
“Na dann, Philip”, begrüßte er seinen Kollegen, “lassen Sie uns den Vertretern unserer Stadt unsere Aufwartung machen.”
Und zu Sally gewandt meinte er: “Sally, haben Sie meinen Flug gebucht?”
“Ja, Sir, Sie fliegen übermorgen um 11.00 Uhr ab John F. Kennedy-Airport. Ankunft in Caracas um...”
“Ja, schon gut, Sally, so genau wollte ich es gar nicht wissen! Ich hab’s eilig! Wo sind die Unterlagen?”
“Kommen morgen.”
“Warum erst morgen? Das hätte alles viel schneller gehen können!”
“Tut mir leid, Sir, ich dachte, dass es morgen noch reicht, weil Sie erst übermorgen fliegen...”
“Sie dachten, Sie dachten! Na ja, was soll’s, ich muss jetzt los. Ich hoffe, dass Sie morgen alles zusammen haben. Kommen Sie, Philip, ich möchte auf dem Empfang pünktlich erscheinen!”
Thomas schob seinen Kollegen mit sanftem Druck aus dem Zimmer.
“Mann, hat der heute eine Laune”, stöhnte Sally, “ich kann nur hoffen, dass er nicht öfter seinen Glückstag hat, dann ist er ja noch ungenießbarer als sonst!”
“Hauptsache, er ist ein paar Tage weg”, erwiderte Maggie achselzuckend, “dann bring ich meine Kaffeemaschine von zuhause mit. So geht uns die Arbeit doppelt so schnell von der Hand!”
“Wehe, du machst das Arbeitstempo kaputt!”, empörte sich Sally im Scherz, “wenn du dann nämlich keinen Kaffee mehr auf der Arbeit trinken kannst, bist du auch nicht mehr so produktiv, aber er erwartet dasselbe Tempo. Das wird dann vielleicht ‘lustig’.”
“Schon gut, wir werden uns schon was einfallen lassen. Auf jeden Fall wird es die nächsten Tage nicht so stressig sein, als wenn er anwesend wäre. Das ist doch schon mal was!”
“Da hast du allerdings Recht”, meinte Sally versöhnlich.
Die beiden Richter erschienen pünktlich auf dem Empfang.
Thomas hasste Empfänge und Cocktailpartys, denn dort war alles in konzentrierter Form auf kleinstem Raum versammelt, was er ums Verrecken nicht ausstehen konnte: Politiker, Show-Größen, Alkohol, Kaffee und dümmliches Geschwätz. Diese Art von Konversation, die es auf derlei Anlässen gab, fand er nur langweilig, peinlich und unwürdig. Aber dieses Mal musste er da hin. Außerdem kam Philip mit, und das war ein kleiner Lichtblick.
Wenigstens ein normaler Mensch in einer Ansammlung von Einfaltspinseln und Angebern. Warum konnten nicht alle Leute so sein wie er? Die Welt würde sicher ein großes Stück besser aussehen, wenn es noch mehr Leute von seiner Sorte geben würde. Thomas seufzte leise bei dem Gedanken daran, dass es leider nur wenige Leute von seiner Sorte gab z. B. seinen Sohn Justin. Der war sein ganzer Stolz. Justin hatte das College mit Bravur gemeistert und studierte jetzt in Harvard Jura. Er würde ein würdiger Nachfolger für Thomas sein und die Dynastie der McNamaras aufrechterhalten. Immerhin waren sie schon in der siebten Generation Juristen.
Zum Glück ist Justin nicht aus der Art geschlagen wie Jeremiah oder meine Tochter Sophie, dachte Thomas. Bei Sophie wundert es mich nicht, schließlich ist sie ein Mädchen, und davon kann man nicht viel erwarten. Wenn es Frauen in den Rechtswissenschaften zu etwas bringen, ist das eher die Ausnahme. So wie bei meiner Frau Martha. Martha ist wirklich brillant, eine absolut hochangesehene Professorin für Rechtswissenschaften in Yale. Und natürlich hat sie einen Doktortitel. Wenn ich mir überlege, dass manche Männer bei der Wahl ihrer Ehefrau nur nach dem Aussehen gehen, wird es mir schlecht. Ich brauche doch eine Frau, mit der ich mich vernünftig unterhalten und austauschen kann. Und sie muss meiner auch würdig sein.
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