Timo blieb liegen. Es war gegen jede Vernunft, aber er konnte einfach nicht mehr. Nein, er wollte nicht mehr. Es tat nämlich ziemlich gut, einfach am Boden zu bleiben und in den wolkenlosen Himmel zu blicken. So, als könnte man die Welt damit einen Moment lang einfrieren und diesen ganzen Schwachsinn stoppen. Außerdem fühlte sich die Regenpfütze unter seinem Rücken gut an. Sie kühlte die Striemen und die Prellungen, die ihm Nallundor mit seinem Stock am Tag davor verpasst hatte. Und auch die von der Woche davor, die gerade dabei waren zu verheilen. Die Sonne wärmte sein Gesicht. Ihr Licht war rötlicher als das der Sonne aus seiner Welt. Aber es funktionierte genauso gut. Es gab Timo Kraft. Die Strahlen prickelten angenehm auf der Haut - ein bisschen wie ein frisch eingelassenes Schaumbad. Ihre Energie drang in ihn ein und machte, dass er sich wenigstens ein klein wenig wohler fühlte. Timo lächelte - auch dann noch, als ihm jemand den Fuß in die Seite rammte.
„Shoywa, Bassai. Shoywa!“, brüllte der Albe. Lange, hellrote Haare umrahmten sein knochiges Gesicht. Die Augen waren größer als bei anderen Spitzohren. Und bedeutend bösartiger. Sie erinnerten ein bisschen an die eines Rieseninsektes. Der Antreiber war ein Sklave - wie Timo. Aber er gehörte zu der Sorte, die dem feisten Nallundor voll und ganz ergeben waren. Ein Speichellecker, einer, der für ein bisschen Macht und ein paar Privilegien seinen Stolz verkauft hatte. „Shoywa!“, brüllte er noch einmal und hob drohend den Stock. Timo bemerkte einen Schweißfleck unter der Achsel seines ansonsten klinisch reinen, grauen Hemdes. Ein Makel, freute er sich. Diese Alben schwitzten normalerweise nicht. Jedenfalls diejenigen, die nicht wie Timo als Menschen auf die Welt gekommen waren und sich später verwandelt hatten. Und ihre Klamotten sahen immer so aus, als kämen sie geradewegs aus der Premium-Reinigung. Keine Falten, jeglicher Schmutz - Blut ausgenommen - perlte ab wie von einer superglatten Lackschicht. Auch das dreckige Pfützenwasser, das seinen Rücken gerade so schön kühlte, würde Timo schnell wieder los haben. Seine viel zu weite graue Hose und sein ebenso graues Schlabber-Hemd waren an Fadheit kaum zu toppen. Aber sie waren aus dem gleichen raffinierten Material wie die Kleider aller Alben hier in der Anderswelt. Eigentlich schade. Dreck wäre immerhin etwas, das ihn von diesen Mistkerlen hier unterscheiden würde.
Die Anderswelt! Sie hatte ihn fasziniert, als er sie noch nicht kannte. Damals auf Madeira hatte er sich gewünscht, hierher zu kommen. Hierher, in diese sagenhafte Welt fernab von allem, was für normale Menschen erreichbar war. Eine geheimnisvolle E-Mail hatte ihn vor einiger Zeit dazu aufgefordert, sich den Alben dieser Stadt anzuschließen. Der Gedanke an ein Reich, in dem Spitzohren wie er das Sagen hatten, war verlockend. Ein Ort, an dem ihn keiner als Freak beschimpfte oder ihn umbringen wollte, an dem man ihm mit Respekt begegnete. Eine idiotische Idee, wie er inzwischen wusste. So grandios und überirdisch diese Stadt auch wirkte, Timo war hier wieder nur ein Gefangener. Schlimmer noch: Ein Sklave für die niedersten Drecksarbeiten, die es zu verrichten gab. Ein Nichts. Er hätte es wissen müssen. Timos Leben war und blieb das eines Verlierers.
Der Schlag traf ihn an der linken Schulter. Ein weiterer blauer Fleck auf der Landkarte seines lädierten Körpers, mehr nicht. Der rothaarige Antreiber hatte nicht mit voller Wucht zugeschlagen. Er wollte zwar, dass Timo endlich wieder aufstand. Aber er hatte ganz sicher auch Angst, dass diese hässliche kleine Angelegenheit zu groß werden könnte. Timo wusste inzwischen, dass Nallundor in der Öffentlichkeit nicht gerne als der brutale, feige Drecksack dastehen wollte, der er war. Deshalb schlug er im Freien weniger hemmungslos zu. Und seinen Antreibern war das ebenso wenig erlaubt.
„Shoywa!“ Diesmal klang der Befehl des Rothaarigen fast schon ein bisschen flehend. Wie erbärmlich er aussah. Die Augen flatterten, wanderten unruhig zwischen Timo und dem Portal des Gebäudes hin und her. Der Antreiber hatte jetzt richtig Angst. Gut so. Für einen niederen Sklaven, den er in der Öffentlichkeit nicht im Griff hatte, würde er von seinem Herren bestraft werden. Ein paar Fußgänger sahen bereits interessiert zu ihnen hinüber. Zwei junge Alben grinsten sogar unverhohlen. Das könnte interessant werden.
Nallundor würde nicht mehr lange brauchen. Timo und die andere Trägersklaven - drei stumpf dreinblickende Kerle, die mit Dingen wie Träumen oder eigenen Bedürfnissen längst abgeschlossen hatten - hatten den fetten Sack in seiner Sänfte vor ein paar Stunden am Badetempel abgesetzt. Ob der prächtige silberne Bau wirklich ein Badetempel war, wusste Timo natürlich nicht wirklich. Aber es sah ganz danach aus. Denn: Immer wenn Nallundor ihn verließ, dann hatte er einen penetrant-süßlichen Duft an sich und nicht mehr, wie meistens, den nach Öl und Gebratenem. Ekelhaft war natürlich auch diese weibische Note, gegenüber dem Normalzustand aber war sie ein Gewinn. Keine Frage: Der Kotzbrocken mit den rosigen Bäckchen ließ sich im Badetempel aufpimpen, war hinterher sauberer als vorher. Meist tat er das, wenn er etwas vorhatte oder Besuch anstand. Immer dann also, wenn es etwas gab, das noch wichtiger war als die ständigen Fressorgien und Exzesse, mit denen Nallundor sein dekadentes Leben sonst so verbrachte. Aber auch in diesem Zustand war er kilometerweit von dem überstrahlten Bild entfernt, das Timo Hemander bisher von den „echten“ Alben gehabt hatte. Trotz seines fehlenden Gedächtnisses verkörperte für ihn der alte Geysbin die Erhabenheit und Weisheit von Jahrhunderten. Und noch nie hatte Timo jemanden gesehen, der sich graziler und dabei so kraftvoll bewegen konnte wie Larinil. Timo wurde erst jetzt klar, dass es die beiden waren, die er in den Wochen bei der Elvan-Stiftung auf Madeira als Prototyp eines Alben vor Augen gehabt hatte. Sie waren die Vorbilder seines neuen Lebens als Spitzohr gewesen. Nur: Er hatte es nicht wahrhaben wollen. Stattdessen hatte er weiter mit seinem Schicksal gehadert, hatte seinem menschlichen Leben nachgetrauert und gleichzeitig davon geträumt, als Super-Rächer all denen in den Arsch zu treten, die ihm einmal Böses gewollt hatten. Wie saublöd er doch war!
Einmal mehr war sein Leben gründlich in die Grütze gefahren - gefahren worden. Denn wieder einmal waren es andere gewesen, die ihm ihren Willen aufgedrückt hatten. Wer und warum? Timo hatte keine Ahnung. Sie waren in einem Hubschrauber gekommen, hatten auf Madeira seinen Kumpel Mike und den Norweger erschossen und Timo betäubt. Die nächsten Erinnerungen waren verworren und kamen ihm reichlich unwirklich vor. Offenbar hatte ihn jemand durch einen Wald getragen. „Ruhig bleiben! Dann dir wird nichts geschehen“, hatte diese schneidende Stimme immer wieder gesagt. Timo hatte sich ohnehin nicht bewegen können. Und immer wieder war ihm schwarz vor Augen geworden. Bis er schließlich doch noch wach wurde - in diesem kahlen, weißen Raum tief unter Nallundors Palast. Ein Gefängnis - wieder einmal. Niemand redete mit ihm, niemand verstand seine Sprache. Die Schläge waren es und die Kette zwischen seinen Füßen, die ihm schnell klarmachten, dass er hier in der Anderswelt kein Gast war. Er war ein Sklave und ein „Bassai“, was auch immer das Wort bedeutete. „Fremder“ vielleicht, „Ex-Mensch“ oder „Vollpfosten“. Timo hatte keine Ahnung. Was er aber wusste, war, dass er der Einzige war, der so genannt wurde.
Kräftige Arme packten ihn und stellten ihn unsanft wieder auf die Füße. Aha. Der Rothaarige hatte in seiner Verzweiflung die anderen Träger zur Hilfe geholt. Wütend baute er sich vor Timo auf. Seine Insekten-Augen funkelten ihn an. Timo grinste, als er merkte, dass zwei ältere Albinnen an der Mauer stehengeblieben waren und das Spektakel kopfschüttelnd verfolgten. Ziviler Ungehorsam war in der Anderswelt ganz offensichtlich etwas Exotisches, dachte er und kassierte im nächsten Moment eine heftige Ohrfeige.
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