„Du erinnerst dich sicher, dass ich beim Einchecken meine Mütze und die Sonnenbrille abnehmen musste“, erklärte Ben.
„Verstehe. Sie haben gesehen, dass du ein Albe bist.“
Ben nickte. „Der Kleine hat vorher noch nie einen von uns gesehen und kann sich deshalb jetzt kaum mehr beruhigen.“
Natalie sah, dass der Junge mehrfach aufgeregt zu ihnen hinübersah. Der Vater dagegen versuchte krampfhaft, genau das nicht zu tun.
„Vermutlich nicht gerade ein Albenfan - deiner Laune nach zu urteilen.“
„Nicht wirklich. Der Kleine hat seinen Vater gefragt, ob wir im selben Flugzeug sitzen und ob das überhaupt erlaubt sei, dass Mutanten fliegen dürfen.“
„Ach je“, stöhnte Natalie. Sie wollte Ben raten, einfach nicht mehr hinzuhören. Aber sie wusste, dass er das nicht tun konnte. Den wachsenden Hass auf die Alben sah er als ein Problem an, dem sie sich stellen mussten, eines, dass sie bekämpfen mussten. Und ihr ging es genau genommen nicht viel anders. Es hatte keinen Sinn, es zu ignorieren.
„Der Vater meint, dass man uns Alben alle einsperren müsste, wenn es nach ihm ginge. Er glaubt, dass die Politiker Angst vor uns haben, sonst hätten sie das schon längst getan. Und er fragt sich gerade, ob er mich anzeigen solle, weil ich meine Mütze und die Brille wieder aufhabe. Wenn ich nicht so furchtbar vernünftig wäre, würde ich zu ihm rübergehen und die Sache mit ihm durchdiskutieren - von Albe zu Mensch.“
Natalie grinste. „Ein verlockender Gedanke. Aber vermutlich keiner, der uns hilft, hier so reibungslos wie möglich wegzukommen. Außerdem hat er da leider Pech. In Portugal gilt das Vermummungsverbot für Alben nicht - noch nicht.“
Ben schob die Brille mit aller Gelassenheit ein Stück weit die Nase hinab und blickte mit seinen strahlend hellen Albenaugen über den Brillenrand hinweg zu der Familie. Der Vater fuhr wie vom Blitz getroffen zusammen, spreiselte von seinem Sitz auf und wies seine Familie wild gestikulierend an, den Platz zu wechseln. Die vier ließen sich schließlich eine Reihe weiter auf einer ihnen abgewandten Sitzreihe nieder.
„Ich bin beeindruckt“, sagte Natalie. „Die magische Kraft des Lichts!“
„Eher die magische Kraft der Angst und der Dummheit. Ist eine weit verbreitete und ziemlich gefährliche Kombination.“
Natalie seufzte. Wie recht Ben damit hatte.
„Ich hoffe, Neuseeland macht mehr Laune. Die Leute dort weigern sich bisher standhaft, euch zu hassen. Vermutlich seid ihr ihren geliebten Tolkien-Elben dafür zu ähnlich.“
„Oder sie brauchen uns als Attraktion für ihren Mittelerde-Freizeitpark. Unter anderen Umständen wäre das ein Job mit Zukunft. So oder so: Ich bin jedenfalls froh, dass es außer Island und der Antarktis noch einen Ort gibt, wo wir unsere Spitzohren mit Stolz tragen dürfen.“
Natalie nickte.
„Ich bin sicher, wir werden uns dort wohlfühlen. Maus und Viktoria sind gestern dort angekommen und finden es - ich zitiere - ‚endgeil‘. Sogar Larinil hat sich in Squirrels Burrow verliebt. Sie klang am Telefon erfrischend ausgeglichen. Und fast schon wieder ein bisschen kämpferisch. Ich hätte gedacht, die Nachricht, dass Viktoria und Maus mit dem Schwert Pech hatten, würde sie mehr mitnehmen.“
Die scheppernde Stimme der Flughafendurchsage unterbrach sie und rief mit leiernder Lustlosigkeit ihren Flug auf. Sie nahmen ihre Sachen und standen auf. Natalie sah die Erleichterung in den Gesichtern der Touristenfamilie, als diese das bemerkte. Der böse Mutant würde also in ein anderes Flugzeug steigen und dort sein Unwesen treiben. Blödes Volk, dachte Natalie. Gefährliches Volk!
Maus‘ Logbuch der Rache, Tag 1
Der erste Schritt ist getan. Ich habe einen passenden Namen für dieses geheime Tagebuch gefunden. Immerhin ein Anfang. Und ich bin fest entschlossen, es weiter zu führen und mit Inhalten anzufüttern, die dem hochtrabenden Namen gerecht werden. Denn, verdammte Axt, ich will Rache. Die Drecksäcke haben uns zweimal im Chiemgau angegriffen, fast in Stücke geschossen und gesprengt. Und dann diese hinterhältige Sauerei von Kampfmutant Hensson, der uns vom Straßburger Münster werfen wollte. Okay, wir leben noch. Glück gehabt. Scheiße. Ein paar Blessuren und ne Menge Albträume. Aber irgendwann muss damit Schluss sein. Ich habe keinen Bock mehr, Zielscheibe zu spielen. Und noch weniger mag ich, wenn jemand versucht, meiner Viktoria etwas anzutun, dem schönsten, liebenswertesten und verdammt noch mal wertvollsten Menschen diesseits und jenseits des Rio Grande. Aber ich will nicht unheroisch klingen. Ich habe dieses Tagebuch und überhaupt mein ganzes Leben der Rache verschrieben. Kampfmutanten halten mich dabei ebenso wenig auf wie Rückschläge. Ich kämpfe mit meinen Waffen und ja, ziehe es durch. Ich schwör’s. Um den Druck zu erhöhen, gelobe ich hiermit feierlich, auf Chips und Currywurst zu verzichten, bis das Ding erledigt ist. Mist, jetzt ist es raus.
Das Übel, dem ich mich voller Inbrunst stellen werde, hat einen Namen: Pieter van den Berg. Milliardenschwerer Investor mit Sitz in London. Und außerdem Verbündeter der Herrscher Lysin’Gwendains hier in der Welt der Menschen. Larinil hat uns kürzlich mit dem Verdacht geschockt, dass van den Berg ähnlich viele Lenze auf dem Buckel haben muss wie sie. Sie glaubt, in ihm den Druidenhäuptling Bram erkannt zu haben. In der Zeit der Kelten hat der mit den albischen Gegnern Geysbins und Larinils gemeinsame Sache gemacht und ein ganzes Heer aus menschlich-tierischen Hybrid-Monstern, Gorgoils, für sie gezüchtet. Das Heer hat damals die weiße Festung Galandwyn angegriffen - mit freundlicher Unterstützung von ein paar tausend fliegenden Feuerfressern (Albisch: Pandrai). Die Alben Galandwyns konnten sie abwehren. Bram allerdings erwischten sie nie. Mit ein bisschen Optimismus sind sie wohl davon ausgegangen, dass er nach der üblichen menschlichen Lebensspanne über die Wupper gegangen sein sollte. Ist er aber wohl nicht. Denn Larinil könnte tatsächlich recht haben.
Ich habe das recherchiert. Details erspare ich dem geneigten Leser meines Logbuchs der Rache. Ich nenne nur zwei Stichworte: Gesichtserkennung und Spurenlesen. Das erste erklärt sich eigentlich von selbst. Jeder Mensch hat ein Gesicht, das es wie einen Fingerabdruck nur einmal gibt. Abstand der Augen, Länge der Nase, Wölbung der Stirn, Form des Mundes und so weiter. Ich nehme die Parameter von Pieter van den Bergs Hackfresse und lasse sie durchs Netz laufen (und durch ein paar feine historische Datenbanken, auf die ich eigentlich keinen Zugriff haben dürfte). „Spurenlesen“ ist einen Ticken komplizierter: Ich folge der Spur seines Imperiums. Van den Berg hat die Braxton Holding von seinem Mentor William Braxton III. geerbt. Der wiederum hatte in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Metallfabrik in Liverpool und einen Kunsthandel in Brügge von einem Belgier namens Fred Laurée übernommen. Und so weiter. Drei Namen, aber ein und dasselbe Gesicht. Die wenigen Fotos, die es von van den Berg, Braxton und Laurée gibt, kommen zwar aus völlig unterschiedlichen Zeiten und zeigen Männer verschiedenen Alters. Trotzdem: Die Parameter stimmen immer verblüffend genau überein - bis hin zu einer Narbe auf der Stirn. Und jetzt kommt der Hammer: Ich habe außerdem das Porträt eines britischen Freibeuters aus dem 16. Jahrhundert gefunden, das sich ebenfalls bestens einreiht. Die gleichen Züge, die gleiche Narbe. Der Maler muss dankenswerterweise ein Faible fürs Detail gehabt haben.
Kurz gesagt: Bram schafft es wohl irgendwie, den Zahn der Zeit auszuschmieren und immer wieder gerne als Jungspund aufzukreuzen. Wie er das macht? Keine Ahnung. Vermutlich haben die Alben der Anderswelt Lysin’Gwendain ihre Hände im Spiel. Es wird ihm so oder so nicht helfen, wenn er - Achtung: Pathos - den kalten Atem meiner Rache zu spüren bekommen wird. Ich habe eine Idee. Ich werde ihn da treffen, wo es richtig wehtut. An einer Stelle, die er so gar nicht auf dem Radar hat.
Читать дальше