Zum ersten Mal, seitdem Timo in der Anderswelt war, wünschte er sich, er würde verstehen, was die Alben sagten. Er hatte sich bisher nicht ernsthaft Mühe gegeben, Albisch zu lernen. Immerhin war es die Sprache, die der verhasste Nallundor gesprochen hatte. Wieso hätte ihn interessieren sollen, was er gesagt hatte? Ein paar Wörter kannte er zwar, aber längst nicht genug, um zu raffen, was Sardrowain in dieser dunklen Kammer mit dem gelockten Herrscher ausgeheckt hatte. Allerdings war Timo auch nicht dumm. Ihm war klar, dass es etwas Verschwörerisches war - und etwas Gefährliches. Um das zu erkennen, hatte er genügend Thriller und Historienschinken im Fernsehen gesehen. Die Anspannung und die Ernsthaftigkeit in den Gesichtern der Alben sprachen Bände. Hinrichtung verschoben? Timo war sich da fast sicher, auch, wenn er keine Ahnung hatte, was als Nächstes passieren würde.
Der Herrscher hatte den kleinen Raum vor ihnen verlassen - mit schnellen Schritten. Etwa fünf Minuten später hatten die Blaumänner Sardrowain und ihn wieder in den langen Gang mit der Ahnengalerie gebracht. Viel langsamer als vorher liefen sie jetzt auf die breite Tür an dessen Ende zu. Sie war bestimmt drei Meter hoch und natürlich silbern. Dass sie über und über mit den Fratzen von Drachen oder ähnlich widerlichen Viechern verziert waren, versprach nichts wirklich Gutes. Sardrowain und der Ober-Blaumann mit der Hakennase blieben stehen, sahen sich für einen Moment an. Und zwar so, wie es Leute taten, die sich in einer wichtigen und sehr ernsten Sache einig waren. Was auch immer es war. Timo hatte ein gutes Gefühl. Er fühlte sich stark. Alles, was jetzt passieren würde, konnte schließlich nur besser sein, als das, was er in den vergangenen Monaten erlebt hatte.
Ein Blaumann löste seine und Sardrowains Fesseln, ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Timo lächelte. Na also. Hinrichtung abgesagt! Dann öffnete der Soldat die schwere Tür.
Warme, frische Luft drang ins Innere. Und mit ihr das Geräusch tausender Menschen, ein Brei aus Gemurmel, Gelächter, durchzogen immer wieder von Beifallsbekundungen. Timo kniff die Augen zusammen. Die Sonne stand hoch und tauchte den großen, dicht gefüllten Platz in helles Licht. Durch einen abgegrenzten, schmalen Korridor bahnten sie sich einen Weg durch die Menge. An dessen Seiten standen in kurzem Abstand grau gekleidete Wachleute, bewaffnet mit Schwertern und langen Stangen, an deren Spitze ein silberner Stern befestigt war. Timo erkannte sofort, dass die Zacken messerscharf waren. Sie kamen ihm ebenso bedrohlich vor, wie die finster entschlossenen Mienen der Männer. Und er bemerkte die interessierten Blicke, die sie und einige andere Alben aus der Menschenmenge auf sie warfen. Vermutlich hatten sie erwartet, dass die Blaumänner gefesselte Verurteilte vor sich her trieben. Der Anblick, den sie dagegen boten, hatte wohl eher etwas von einem gemütlichen Spaziergang von Freunden - wenn auch ohne Plaudereien, denn dazu hätte jetzt wohl niemand den Nerv gehabt.
Die große Mehrheit der Alben auf dem dicht gefüllten, mit Marmor gepflasterten Platz allerdings interessierte sich nicht die Bohne für sie. Ihre Aufmerksamkeit war voll und ganz auf eine Art Tribüne gerichtet, die sich in der Mitte aus der Masse erhob. Timo konnte noch nicht alles erkennen, aber je näher sie kamen, desto klarer wurde ihm, was hier passierte. Hier wurde hingerichtet - zur großen Freude des Pöbels. Durch hochgerissene Arme hindurch erkannte Timo einen in schillerndes Gelb gekleideten Alben. Sein langer Mantel reichte bis zum Boden und er hatte eine nach oben spitz zulaufende Kapuze auf, die seinen Kopf und auch das Gesicht vollständig bedeckte - bis auf einen schmalen Schlitz für die Augen. Er hatte den Charme eines Ku-Klux-Klan-Kämpfers. Mit beiden Händen umfasste der Albe den Griff eines Breitschwertes. Klinge und Mantel waren mit Blut und silbernem Staub besudelt. Und es kamen neue Flecken dazu, als im selben Moment das Schwert herunterfuhr und einem armen Kerl den Kopf abtrennte. Timo glaubte, durch den Lärm das dumpfe Geräusch des Schnittes gehört zu haben. Vielleicht hatte ihm aber auch seine Fantasie einen Streich gespielt. Das also war es, was man mit ihm und Sardrowain vorgehabt hatte. Ein letzter großer Auftritt zur Belustigung des Volkes. Nett. Jetzt hätte Timo nur noch gerne gewusst, wie das Alternativprogramm aussehen sollte.
Immer näher kamen sie an die Tribüne heran. Ein paar Dienerinnen waren eifrig damit beschäftigt, mit Rutenbündeln den silbernen Staub in tellergroße Schalen zu fegen, den der arme Kerl hinterlassen hatte, der eben geköpft worden war. Timo kam es reichlich grotesk vor, wie sie um die Füße des Henkers herumwedelten, der unbeweglich wie eine Statue einfach so dastand und sich unter seiner Kapuze vermutlich wie ein Kind über seine gruselige Optik freute, dachte Timo. Weniger Freude daran hatten vermutlich die vier abgerissenen Alben, die nicht weit weg von ihm in einem engen Käfig hockten. Ihre Augen zeigten Angst, Fassungslosigkeit und Resignation. Sie waren offenbar die Nächsten, die an der Reihe waren.
Rund um die Tribüne standen dicht an dicht wieder die grauen Kerle mit ihren Sternenlanzen. Erst jetzt konnte Timo eine zweite Tribüne sehen, die etwa zwanzig Metern entfernt von der ersten aufgebaut und noch weit besser gesichert war. Nein, das war keine Tribüne. Es war ein Podest aus massivem Stein, einige Meter höher als die Plattform für die Hinrichtungen. Darauf standen drei gewaltige steinerne Throne mit Sitzflächen so groß wie Badewannen. Die Lehnen ragten wie Türme in die Höhe. Und wie bei den Thronen, die Timo schon in der großen Halle des Palastes gesehen hatte, formten deren obere Enden große Sterne. Allerdings waren die hier weit massiver und grober, was sie sogar noch ein wenig furchteinflößender machten. Für jeden in der Menge - auch wenn er hunderte Meter entfernt vor einem der Säulenbögen stand, die den riesigen Platz umgaben - war unübersehbar, dass hier die drei Herrscher saßen. Unter ihnen war auch der mit den zurückgebundenen, graubraunen Locken, der eben noch mit ihnen in der versteckten Kammer geredet hatte. Timo bemerkte, dass er Sardrowain einen schnellen, hektischen Blick zuwarf, als sie schließlich den freien Bereich zwischen Richtplatz und Podest erreicht hatten. Sie standen vor einer breiten Treppe mit mächtigen Stufen, die zu den Thronen hinaufführte. Timo sah bestimmt dreißig Blaumänner, die mit Armbrüsten und Schwertern bewaffnet das Podest sicherten - zusätzlich zu den vielen grauen Sternlanzenträgern. Unruhe machte sich breit. Viele von den Bewachern sahen sie jetzt verwundert, fast schon verwirrt an. Hände lagen auf Schwertgriffen, Lanzen wurden etwas fester angepackt. Wenn ein direkter Angriff zu dem Plan gehörte, dann standen ihre Chancen nicht wirklich gut, dachte Timo.
Sardrowain konnte nicht erkennen, ob Welankwain und Solungar ihren Teil des Planes erfüllten. Überraschenderweise spürte er nichts. Die Macht der drei Steine schien die Throne weiter wie ein Nebel einzuhüllen. Nichts deutete darauf hin, dass die beiden das schützende Band zu Lugwin gelöst hatten. Nichts. Sardrowain sah dem alten Adro’wiai in die Augen. Jahrtausende hatten sie überdauert. War es vermessen gewesen, zu glauben, gegen den ältesten der Herrscher aufbegehren zu können? Nun. Sei es drum. Für den Meister gab es jetzt keinen Weg mehr zurück. Entweder würde er schon bald dieses Podest besteigen oder sein Staub würde dessen Stufen bedecken. Lugwin hatte natürlich längst bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Timo Hemander und Sardrowain hätten auf den Richtplatz gebracht werden sollen. Stattdessen standen sie vor ihm - ohne Fesseln, eskortiert von einer Gruppe hoher Offiziere. Der Meister sah, wie Lugwins Verstand arbeitete, sich womöglich an die Hoffnung klammerte, es gehe vielleicht bloß um ein verzweifeltes Gnadengesuch. Dann aber sah er sich um, wie ein rastloser Irrer blickte er mal zu Welankwain, mal zu Solungar. Aber keiner von beiden erwiderte seinen Blick. Der jüngere Adro’wiai stierte nur vor sich hin, als gehe ihn das alles nichts an. Welankwains Gesicht dagegen verriet Scham. Seine Brauen lagen dicht beieinander. Falten durchzogen seine Stirn.
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