„Macht ihn los!“, rief er seinen Antreibern zu.
Timo spürte, wie sich die Fesseln lösten. Würde man ihn gehen lassen? Blödsinn! Natürlich nicht. Er roch Nallundors widerlichen Duft. Der Fettsack war in der Nähe und vermutlich drauf und dran, ihn ein weiteres Mal zu schlagen oder noch Übleres mit ihm anzustellen. Jemand packte ihn an den Armen, zerrten ihn ein oder zwei Meter über den Boden. Timo ging sofort auf die Knie, als er wieder losgelassen wurde. Der Albe mit der schneidenden Stimme hatte ihm etwas von seiner Kraft zurückgegeben. Aber es reichte nicht, um aufzustehen und davonzulaufen. Timo blinzelte, versuchte, durch seine geschwollenen Augen etwas zu erkennen. Nallundors Gesicht war dicht vor ihm. Es war unscharf. Trotzdem war die Häme, die Lust am Quälen überdeutlich. Ebenso wie der Dolch, mit dem der Fettsack Timo einen tiefen Schnitt an der Schulter verpasste. Noch mehr Schmerzen! Timo stöhnte auf.
Töte ihn, Timo Hemander! Und Männer werden dich in den Palast bringen.
Was hatte er schon zu verlieren? Timo tastete nach dem kleinen Holzkästchen, das der Albe heimlich in seinen Ärmel gesteckt hatte - unterhalb seines Handgelenks. Es war rechteckig, rau. Aus der vorderen Seite ragte eine metallene Spitze ein paar Zentimeter heraus.
Wieder schnitt Nallundors Dolch durch seine Haut. Diesmal an seiner linken Wange. Der widerliche Kerl quiekte fast vor Vergnügen. Timo hatte nicht mehr viel Zeit, nicht mehr viel Kraft.
Er schob das Kästchen behutsam nach vorne, sodass es versteckt von seiner Hand aus dem Ärmel ragte. Es musste eine Art Auslöser geben, etwas, das den Pfeil - oder was auch immer das war - losschießen würde.
Nallundor stach ihm in die Seite. Wohl nicht tief, aber der Schmerz war heftig. Timo spürte das Blut, das in Bächen aus seinem Körper zu fließen schien.
Da, eine Vertiefung, eine Art Knopf auf der Oberseite des Kästchens. Das musste es sein. Es war seine letzte, seine einzige Chance. Timo hob die Hand, richtete sie auf Nallundor. Der Albe holte mit dem Dolch aus, als Timo seinen Zeigefinger in die Vertiefung drückte. Er hörte ein Schnalzen, spürte einen Ruck und sah etwas Längliches in Nallundors Kinn eindringen. Der Pfeil verschwand vollständig im Kopf des Alben. Ungläubige, hohle Augen sahen ihn einen Moment lang an. Nallundors Mund öffnete sich leicht. Ein Lichtschimmer drang aus seinem Rachen, etwas, das Momente später seinen ganzen Körper erfasste. Und kurz darauf nahm Nallundors Haut eine silbergraue Farbe an, als würde er sich in eine poröse Statue verwandeln. Dann zerfiel er zu einem beachtlichen Haufen silbernen Staubs.
Sardrowain hatte in den letzten beiden Tagen viel nachgedacht. Er war sich dessen bewusst, dass sein Spiel gefährlich war. Sehr gefährlich. Aber er hatte keine Zweifel. Sollte ihm sein Kampf den Tod bringen, dann würde er in der Gewissheit sterben, das Richtige getan zu haben. Er konnte nicht anders - wohin auch immer ihn sein Weg bringen würde. Die kommenden Tage waren entscheidend. Auch das war ihm klar. Wieder und wieder war er seine Argumente durchgegangen, hatte Szenarien durchgespielt, seine Möglichkeiten ausgelotet. Die Adro’wiai - sie mussten doch erkennen, was vor sich ging. Dass dies eine Entwicklung war, die sie nutzen mussten. Immerhin: Noch war Sardrowain frei und am Leben. Allein das war vermutlich ein gutes Zeichen.
Der Meister drückte die Rolle, die er unter seinem Arme trug fest an sich. Er durchschritt den langen Gang unter der hohen schlichten Decke, vorbei an den gewaltigen Fenstern. Sie ließen so viel Licht ins Innere des Palastes fluten wie irgend möglich. Und sie gaben den Blick frei auf die Parkanlage mit ihren streng geschnittenen Hecken und den spitz in den Himmel ragenden Bäumen. Sardrowain mochte den Hagas'Harwun, den Sternenpalast im Herzen San'tweynas. Er war eines Herrschers über die Welt würdig. Wie eine gewaltige Blüte wölbte er sich in die Höhe, bestehend aus fünf geschwungenen Blättern und einem emporragenden, runden Turm in deren Mitte. Dach und Wände waren mit dem silbernen Staub der vergangenen Helden überzogen, auf dass sie dem Licht auf ewig nahe waren und ihre Kraft an die Lebenden weitergaben. Einmal nur war Sardrowain vor Jahrhunderten in einer Barke über die Stadt geflogen und hatte den Hagas'Harwun von oben sehen dürfen. Er suchte seinesgleichen. Jede Windung, jeder Stein des Palastes schrien danach, Teil von etwas noch Größerem zu sein.
Der Meister betrat den Thronsaal. Die Sonne drang durch schmale, lange Fenster ins Innere des Saals. Sie reichten von der Mitte der bestimmt zehn Pferdelängen hohen Wand bis weit hinein in die gewölbte Decke. Linien des Lichts, die den Saal erhellten und dabei alles, was sich in ihm befand mit einem Muster aus Streifen und Schatten überzogen. Der Raum schien an keiner Stelle symmetrisch zu sein, und doch kam er Sardrowain der Vollkommenheit so nahe vor, als wäre er für die Ewigkeit gemacht, als wären die Sterblichen, die sich in ihm aufhielten, nur eine Episode. Allein zwei schlichte Statuen, von denen Sardrowain nicht wusste, wen sie darstellten, schmückten den Raum. Der Boden strahlte grausilbern. In Terrassen erhob er sich scheinbar gemächlich in Richtung der drei Throne. Sie standen nebeneinander, allerdings im Abstand von mindestens einer Mannslänge. Riesige Lehnen mündeten in kunstvoll gestaltete Sonnen. An jeder Zacke war eine silberne, dünne Stange befestigt, die wie ein Strahl mehrere Armlängen weit reichte. Die Sonnen gaben den Adro’wiai, die auf den Thronen saßen, eine Aura von Erhabenheit und Macht. Wer hier vorsprach, sollte von Demut ergriffen sein, sollte sich seiner Unwichtigkeit angesichts der drei Herrscher bewusst sein. Auch Sardrowain hätte die Adro’wiai gerne bewundert und verehrt. Doch er konnte nicht, weil er wusste, wie schwach und ängstlich sie waren.
Der Meister blieb in gebührendem Abstand vor den Thronen stehen und verbeugte sich. Ein Diener reichte ihm ein Tablett mit einem metallenen Becher. Eine alte Sitte, die auf die Zeit zurückging, in der Bittsteller tagelang unterwegs gewesen waren, um ihr Anliegen vorzutragen. Ihr Durst sollte gelöscht werden, damit sie mit klarem Verstand sprechen konnten. Doch der Meister lehnte ab. In diesem Palast etwas zu trinken, konnte tödlich sein. Hohe Würdenträger und sogar zwei Adro’wiai hatten durch eine plötzlich auftretende, rätselhafte Krankheit ein vorzeitiges Ende gefunden.
„Euer Misstrauen ist beleidigend, Sardrowain. Glaubt Ihr, wir brauchen Gift, um uns Eurer zu entledigen? Ihr seid eine Schlange. Die Gefahr wäre groß, dass ihr durch Gift nur noch stärker werden könntet, anstatt zu sterben.“
Es war Lugwin, der sprach. Er war der mächtigste Adro’wiai und mit großem Abstand der Älteste. Er war noch einer jener Neuen Herrscher, die vor zwei Jahrtausenden den Lorrwain, den Krieg, der das Volk des Elvan jal'Iniai spaltete, begannen. Die drei mächtigsten Familien San'tweynas hatten sich damals gegen die Großmeister des Lichts aufgelehnt, deren selbstsüchtiges Streben nach Vollkommenheit und Harmonie sie verachteten. Sie wollten Größeres, die Herrschaft über beide Welten, ein Reich, wie es noch niemals zuvor existiert hatte. Doch sie waren gescheitert.
Lugwin sah alt aus und müde. Sein Gesicht war zerfurcht. Die hellgrünen Augen hatten ihren Glanz verloren. Seine langen weißen Haare, die ihm beinahe bis zur Hüfte reichten, waren fahl. Und doch saß er noch immer stolz in seinem Thron, gekleidet in einen schwarzen Mantel mit hochstehendem Kragen. Um seinen Hals hing der rote Stein des Lichts, eingefasst in zwölf silberne Ringe, die ihn scheinbar lose umgaben, einen Kreis um ihn herum bildeten, in dessen Mitte der ovale Stein schwebte. Er war Symbol für die Kraft des Feuers und die Macht eines Adro’wiai. Aber der Stein war weit mehr als das, wusste Sardrowain. Er war untrennbar verbunden mit den Steinen der anderen beiden Herrscher. Alle drei zusammen waren ein Bollwerk gegen fast alle denkbaren Zauber, die den Adro’wiai hätten gefährlich werden können. Ein unüberwindbarer Schutz, jedenfalls so lange, wie die Herrscher zusammenhielten. Lugwin blickte streng auf Sardrowain hinab.
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