Thea stieg von ihrem Fahrrad ab und lenkte es, noch immer auf dem Pedal stehend, in das autofreie Gässchen, das zur Eisdiele führte. Auch hier glich das Bild dem der Biergartenanlage – längst passte ihr Fahrrad nicht mehr in eine der aufgestellten Halteplätze. Kinder spielten am Brunnen vor der Eisdiele und auf dem Spielplatz, während sich ihre Eltern noch bei einem kühlen Getränk an den Gartentischen aufhielten. Am Straßenverkauf wartete eine geduldige Menschenschlange auf ihre Bedienung, nur einige wenige kehrten bereits mit gefüllten Waffeln zurück und schleckten an Pistazieneis und anderen Sorten.
Thea parkte ihr Rad an einer freien Laterne und schloss es sorgfältig ab. Mit schnellen Schritten erklomm sie die hölzernen Stufen der Terrasse, während sie nach einem unbesetzten Tisch Ausschau hielt. Als ihr Blick den ihrer Freundin traf, geriet sie ins Staunen. Thea hätte wetten können, dass sie vor Juli an der Eisdiele ankommen würde, schließlich wohnte sie beinahe um die Ecke und Thea war zügig gefahren, doch hier saß Juli bereits an einem der oberen Tische, vor sich stehend eine große Portion Eis, auf der sich Sahne und jede Menge Obst türmte.
„Ich wusste, dass du dich nicht lange bitten lassen würdest“, begrüßte Juli sie.
Misstrauisch sah sich Thea um. Kaum ein Platz in der Eisdiele war unbesetzt. Familien, Paare, Cliquen, sie alle badeten sich in den frühsommerlichen Sonnenstrahlen, lachten und unterhielten sich, während sie mit den Löffeln in ihren Eisbechern gruben oder an ihren Getränken nippten.
„Heute ist der Tag der Unmöglichkeiten. Wir haben Dein_Tod geschlagen und ich bin vor dir in der Eisdiele und habe bereits meinen Becher!“, triumphierte Juli.
„Wie hast du das angestellt?“, fragte Thea verschwörerisch und setzte sich auf den freien Platz ihr gegenüber.
„Du hast wohl noch nicht davon gehört, dass ich eine echte Hexe bin!“, lachte Juli und strich eine Strähne ihres blonden Haares von ihrer Brille, die ihrem akkurat zur Seite gekämmten Pony entkommen war.
„Ha, ha“, erwiderte Thea, während sie die Karte studierte.
Juli steckte den Löffel in den Mund und gab einen genüsslichen Laut von sich, worauf Thea missmutig nach der Bedienung sah.
„Die lässt sich Zeit“, knurrte sie. „Wie hast du das gemacht? Jetzt sag schon!“
Juli nahm ein Stück Erdbeere zwischen die Finger und verschlang es provozierend. „Magie, pure Magie.“
Abermals suchte Thea nach der Bedienung. Ihr Blick begegnete dem eines jungen Mannes. Wirres, fuchsrotes Haar umgab sein Gesicht. Ein Bart rund um Kinn und Wangen leuchtete in der gleichen Farbe. Ertappt sah Thea weg, suchte aber ein weiteres Mal nach dem Fremden, um sich zu überzeugen, dass er ebenfalls den Blick abgewandt hatte. Das Gegenteil war der Fall und Thea schnappte sich die Karte und hielt sie studierend vor ihr Gesicht.
„Wenn du sie nicht hinlegst, kommt nie jemand vorbei“, belehrte Juli sie.
„Ach ne!“, schnarrte Thea.
„Bestellst du heute keinen Nussbecher?“
„Was? Doch.“
„Na dann nimm endlich das Ding runter“, lachte Juli.
Thea äugte über die Karte. Langsam nahm sie sie aus dem Gesicht. „Der starrt die ganze Zeit zu mir rüber“, murrte sie.
Juli folgte ihrem Blick. „Wer?“ Sie hob sich leicht aus ihrem Stuhl und überschaute die Menge. „Ich sehe niemanden. Aber vielleicht ist es Dein_Tod, der dich mit seinen Augen durchbohren will!“, raunte sie verschwörerisch und lehnte sich verstohlen über den Tisch.
„Du hast einen Knall“, lachte Thea.
Endlich näherte sich die Bedienung. Statt den Bestellzettel mit sich zu führen, brachte sie jedoch einen großen Becher Eis und Sahne mit sich, gespickt mit Haselnüssen und Mandelsplittern, den sie vor Thea abstellte.
Staunend sah Thea zu ihr auf und erntete dafür schallendes Gelächter von Juli.
„Glaub mir, ich bin eine Hexe“, scherzte sie ein weiteres Mal.
Thea verschränkte die Arme. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie Juli an.
Ihre Freundin legte den Kopf schief. „Ich habe angerufen, bevor ich losgefahren bin und einen Tisch und mein Eis bestellt“, löste sie das Rätsel auf. „Meine Mutter musste noch einkaufen fahren. Sie hat mich rasch mit dem Auto abgesetzt. Als ich hier war, habe ich dein Eis bestellt. War doch klar, dass du einen Nussbecher nimmst!“
Langsam tauchte Thea ihren Löffel in die Sahne. „Du bist schrecklich!“
„Danke, ebenso“, grinste Juli.
Sie aßen ihr Eis und ließen es sich nicht nehmen, im Anschluss noch einen Milchshake zu trinken. Sie sprachen über die Schule und das Spiel, über ihren gelungenen Kampf gegen Dein_Tod und schließlich bestellte Thea zwei Portionen Eis zum Mitnehmen. Als sie zahlte, begegnete sie abermals dem Blick des Fremden, der, ebenso wie sie, noch immer im Café saß. Begierig darauf, seinem Blick zu entkommen, ergriff Thea das Eispäckchen, stand auf und ging zu ihrem Fahrrad.
„Sehen wir uns später online?“, fragte sie an Juli gewandt, die ihr gefolgt war.
„Hm, ich weiß nicht, ob ich heute noch mal ins Spiel will. Dein_Tod wird uns keine Ruhe lassen.“
Thea lachte. „Dann bleiben wir einfach in der Stadt hocken und sehen uns an, wie er im Worldchat schimpft.“
„Das können wir gerne machen“, erklärte sich Juli einverstanden. „Also bis später!“
Behutsam bettete Thea die verpackten Becher in den Fahrradkorb, verabschiedete sich und radelte davon. Noch immer hatte die Aktivität auf den Straßen nicht nachgelassen, nur die Autos, mit den vollgestopften Kofferräumen, waren vor den Häusern verschwunden. Man schien die Einkäufe ohne Umwege auf den Grill gelegt zu haben, denn von überall her drang der Duft von gebratenem Fleisch.
Zu Hause angekommen überkam Thea ein seltsames Gefühl, das sie über ihre Schulter blicken ließ. Ein Schreck fuhr ihr durch die Glieder, als sie den rothaarigen Mann aus der Eisdiele entdeckte, der ihr durchdringend nachsah. Rasch knallte Thea die Tür zu, aber ehe sie sich ihrem Unbehagen hingeben konnte, tanzte ihr kleiner Bruder um sie herum. Er trug, wie schon in den vergangenen zwei Wochen, seine Lieblingshose – eine kurze, karierte Shorts, die er sich selbst ausgesucht hatte und die ihm viel zu groß war. Wie Glocken schaukelten die Hosenbeine um seine dünnen Knie. Fast jeden zweiten Abend stopfte Theas Mutter das Kleidungsstück in die Waschmaschine, damit es am nächsten Morgen keine Wutausbrüche gab, weil Mats eine andere Hose tragen sollte. Thea brachte der Trotzphase des dreijährigen Gnoms nur wenig Verständnis entgegen. Sie war fest davon überzeugt, dass sie als Mutter anders handeln und sich nicht derart terrorisieren lassen würde, Dennoch liebte sie ihren Bruder abgöttisch. Immer wenn er Thea mit seinen Kulleraugen ansah, konnte sie ihm nicht böse sein. Genauso wenig wie jetzt, da er sich mit seinen kleinen nackten Füßen und seinem nackten Oberkörper gierig nach den Eisbechern reckte und mit den schmutzigen Fingern an ihrem T-Shirt riss.
„Was hast du mir mitgebracht? Was?“, rief er fröhlich.
„Bananensplit. Hier nimm und gib schon Ruhe!“, sagte Thea liebevoll und reichte ihm das Päckchen.
Auch Theas Mutter ließ nicht lange auf sich warten. „Warum schlägst du so die Tür?“, fragte sie vorwurfsvoll.
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