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1. Maria Mac Dalland: VØLVENS SPÅDOM – SKABELSEN / Danmark 1995
Schwer atmend und unsagbar gefährlich stand der Hüne vor ihnen. Seine breiten Schultern hoben und senkten sich im Rhythmus tiefer Atemzüge. Noch bewegten sich Tiray und Fengurd in seinem Schatten und er ahnte nichts von den Angreifern hinter ihm. Eine kostbare, blaugoldene Rüstung schützte seinen Körper, nur der Rückenkamm lag borstig und schwarz zwischen den gepanzerten Schultern frei. Auf seinem Rücken prangte eine schwere Doppelaxt, die behandschuhten Hände führten zwei kleinere Beile.
„Wir müssen ihn gleichzeitig angreifen, sonst haben wir keine Chance. Hast du genug Tränke bei dir?“, fragte Fengurd. Die Zauberin kauerte neben einem schwer bewaffneten Zwerg in goldener Rüstung, ihre Hände ruhten über ihrem gewundenen Zauberstab auf dem Gras.
„Meinst du wir packen ihn wirklich? Ich habe keine Lust schon wieder zu sterben. Ich verliere über 100k Punkte, wenn es schief geht“, antwortete Tiray ängstlich. Eine schwere Axt wippte in seiner rechten Hand.
„Ich kann dich ja später ein wenig leveln, falls etwas passiert“, entgegnete Fengurd gelassen.
„Hast du es mit Tito abgesprochen? Sollten wir den platt machen, legen wir uns mit seiner ganzen Horde an.“
„Das Spiel macht doch keinen Spaß, wenn man den halben Tag friedfertig nebeneinander herläuft. Außerdem habe ich mit ihm noch eine alte Rechnung offen. Weißt du, wie oft er mich am Anfang gelegt hat? Ich bin froh, ihn endlich alleine anzutreffen.“
Thea bewegte sich nervös in ihrem Schreibtischstuhl und packte die Maus fester. Nur wenige Klicks und schon würde der Kampf losgehen. „Bereit?“, sprach sie in das Mikrofon um ihren Hals.
„Ich hoffe nur, seine Horde ist weit weg“, raunte es aus den Lautsprechern neben dem Monitor.
„Wird schon“, antwortete Thea. Sie fuhr mit dem Mauscursor über die fremde Spielfigur, und als das Schwertzeichen erschien, klickte sie. Die blau gewandete Magierin hob die Hände, murmelte einen Spruch und sofort gingen grüne Blubberblasen über den Minotauren nieder. Dieser drehte sich um und hatte schon eine große Axt statt der Beile in der Hand. Mit gewaltigen Schlägen hieb er auf Fengurd ein.
„Jetzt Juli, sonst hat er mich!“, rief Thea.
Tiray sprang vor, landete einige gut platzierte Treffer und brachte den Mino kurzzeitig zum Taumeln. Dieser versetzte Fengurd einen weiteren Hieb, ehe er sich dem Zwerg zuwandte. In einer gewaltigen Schlagabfolge liefen die Nummern über Julis Spielfigur nur so davon und der Lebensbalken schrumpfte in rasender Geschwindigkeit.
„Mach was Thea!“, rief es aus den Lautsprechern, doch Thea konnte nicht helfen, ihre Figur war mit einem Schlafzauber belegt und schwang langsam hin und her.
„Wirf einen Gegenzauber auf mich“, befahl Thea, während sie immer wieder auf ihre Maus klickte und versuchte ihrerseits einen Zauber auf den Mino zu werfen.
„Können vor Lachen!“, rief Juli und Thea beobachtete Julis vergebliche Versuche, ihren Zwerg aus den Schlagfolgen des Minos zu lösen. Flüche drangen aus der Lautsprecherbox, dann war der Schlafzauber von Fengurd genommen und Thea konnte endlich den erlösenden Klick auf den Mino tätigen. Feuerbälle hagelten auf den Gegner nieder und Juli steuerte ihren Zwerg mit neuen Energien zurück in das Geschehen, um ihrerseits einige Schläge auf den Feind hageln zu lassen. Thea ließ Fengurd einen Magietrank zukommen und beschwor abermals den Feuerzauber auf den Mino herab.
„Wie viel hält dieses blöde Viech eigentlich aus?“, schimpfte Juli von der anderen Seite des Computers und Thea beobachtete, dass Juli ihren Zwerg mit einigen Blitzangriffen in den Kampf jagte. Nun war es der Mino, über dem die Wölkchen der Betäubung aufstiegen.
„Gleich haben wir ihn“, triumphierte Thea und schickte ein letztes Mal ihren Feuerzauber auf den Mino los. Die gegnerische Figur erwachte, doch statt anzugreifen, floh sie. Schon schickte Juli ihren Zwerg mit einer weiteren Attacke los und stoppte den Lauf des Minos.
„Wenn er jetzt noch mal zuschlägt, bin ich geliefert“, kommentierte Juli trocken. Thea verübte ein paar hektische Klicks, öffnete ein Waffenfenster und rüstete ihre Figur rasch mit einem Speer aus. Gerade als der Mino einen Heiltrunk warf, stach die Magierin auf den Mino ein. Die Figur fiel zu Boden und löste sich vor ihnen auf.
„Du hast es geschafft! Ich glaube es nicht!“, rief es aus den Boxen, während Thea triumphierend von ihrem Schreibtisch aufsprang und die Faust ballte.
„Ja! Wir haben ihn! Danke Juli!“
„Keine Ursache, aber ich habe mir fast in die Hosen gemacht. Noch Lust auf ein Eis? Wir könnten uns in zehn Minuten im Fantasia treffen“, schlug Juli vor.
Thea äugte auf den Bildschirm. Der Mino, dessen Spielername Dein_Tod1995 war, schrieb etwas in den Worldchat. Das werdet ihr noch bereuen!
„Der ist wirklich sauer“, lachte Thea.
„Wäre ich auch. Was ist nun mit dem Eis?“
Thea starrte auf den Chat, überlegte rasch eine Antwort und kam nicht umhin sich herablassend zu äußern. Das war eine Genugtuung! Beim nächsten Mal stirbst du eher!
„Jetzt reiz ihn nicht noch. Ich habe keine Lust, dass er jeden Tag auf mich Jagd macht“, beschwerte sich Juli, die den Worldchat gleichwohl im Auge behielt. Nichts für Ungut, schrieb sie in Tirays Namen und damit war sie aus dem Spiel verschwunden.
„Also, in zehn Minuten im Fantasia. Entweder du bist da, oder nicht“, klang es fröhlich aus Theas Boxen und mit einem Blubb war Juli aus dem Messenger verschwunden. Thea betrachtete noch eine Weile den Worldchat, doch Dein_Tod schrieb nichts mehr und so schloss auch sie das Spielfenster und fuhr den Computer herunter. Ein Eis nach einer Schlacht wie dieser war genau das Richtige. Sie schnappte ihren Fahrradschlüssel, hüpfte die Treppe vom obersten Stock hinab und lief geradewegs ihrer Mutter in die Arme.
„Wohin so eilig?“, fragte diese interessiert.
„Ins Fantasia“, antwortete Thea, schon die Türklinke in der Hand.
Frau Helmken, eine Frau mit langen blonden Haaren und Augen wie blaue Ozeane, lächelte. „Eine fantastische Idee. Bringst du mir und deinem kleinen Bruder etwas mit, wenn du fertig bist?“
„Och Mama!“, stöhnte Thea genervt. Aber ihre Mutter hatte bereits das Portemonnaie in der Hand und reichte Thea einen Schein.
„Sei nicht so. Du darfst dir auch einen extra großen Becher auf meine Kosten gönnen“, lächelte sie.
Thea grinste breit und nahm das Geld an. „Na wenn das so ist!“, erwiderte sie. Schon war sie in der Tür verschwunden, die sich gleich wieder hinter ihr öffnete.
„Vergiss das Wiederkommen nicht!“, rief ihr ihre Mutter nach.
„Ja, ja“, entgegnete Thea, sprang aufs Rad und fuhr los.
Die Straßen, denen Thea zur Eisdiele folgte, waren gesäumt von spielenden Kindern und geschäftigen Menschen. Herr Gabel aus dem gegenüberliegenden Haus strich seinen Gartenzaun, gleich daneben polierte Frank, ein Junge aus der Oberstufe, sein Auto. In den Vorgärten der Häuser brummten Rasenmäher, Familien räumten taschenweise ihre Samstagseinkäufe aus ihren Autos und sportlich gekleidete Frauen und Männer joggten auf den Gehsteigen in Richtung des nahe gelegenen Parks. Eine Gruppe von Jungen vollführte mit ihren Skateboards waghalsige Sprünge über bereitgestellte Hindernisse, die sie rasch von der Straße räumten, sobald sich ein Auto näherte. Erst im Ortskern, mit den alten Fachwerkhäusern und seinen geschlossenen Hoftoren, wurde es ruhiger. Auf den gepflasterten Wegen der verkehrsberuhigten Zone wirkte die Zeit oft wie stehen geblieben. Ein Bäcker, mit einem historischen Gildenzeichen über seinem Ladengeschäft, hatte seine Türen bereits verschlossen und genoss sicher den wohl verdienten Feierabend – ebenso der Metzger nebenan. Auch die Apotheke mit ihren großen Fenstern, in denen allerlei Medizin feilgeboten wurde, war bereits geschlossen. Dafür hatte das örtliche Restaurant mit seinem angeschlossenen Biergarten geöffnet und bildete einen jähen Kontrast zum Idyll. Die Stimmen der Besucher drangen bis über die Straße zu Thea hinüber. Fahrräder, mit auf den Lenkertaschen platzierten Freizeitkarten, reihten sich dicht aneinander, ebenso ein paar Motorräder. Der kleine Parkplatz neben der Gaststätte war bereits hoffnungslos überfüllt und einige freche Fahrer hatten ihr Auto dicht an der Hofeinfahrt im Parkverbot abgestellt. An einem Samstagnachmittag schien die halbe Welt in diesen Teil der Altstadt einzufallen.
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