Ehrlich antwortete Thea: „Nein.“
„Ich bin Urd, die Gewordene. Ich weiß, was gewesen.“
„Und die anderen zwei?“
Den Kopf leicht neigend antwortete Urd: „Sind Verdandi, das Werdende, und Skuld, das Werdensollende.“
„Ihr seid Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, stellte Juli fest.
Urd nickte bedächtig. „So ist es.“
Juli wusste nichts darauf zu sagen, doch die Norne schien keine Antwort zu erwarten. Stattdessen raunte sie: „Odin bat darum, euch alles zu zeigen, was für eure Reise wichtig ist und ich erfülle seinen Wunsch. Seid ihr bereit?“
Theas und Julis Blicke trafen sich. Ihre Freundin sah ebenso unsicher drein, wie Thea sich fühlte. Zögernd nickte sie.
Urd rückte ihr Antlitz nah an Thea heran. Wie unergründliche Seen ruhten die Augen der Frau in dem zerfurchten Gesicht. Alt und hell zugleich lächelten sie Thea an.
„Ich kenne dich“, sprach sie geheimnisvoll. „Mutig in all deinen Leben. Aber jetzt zweifelst du.“
Wenn ihr Thor oder Odin schon unangenehme Gefühle beschert hatten, so überbot die Norne alles Dagewesene. Zitternd holte Thea Luft, doch bevor sie etwas erwidern konnte, hob Urd die Hand und legte sie Thea auf die Stirn. Augenblicklich verschwomm Theas Blick. Die Welt um sie herum rotierte und die Farben mischten sich in einem Wirbel, der Theas Sicht allmählich schwarz färbte.
Als das Licht wiederkehrte, stand Thea noch immer im Halbdunkel. Flammen tanzten hoch, während sie das Schwert aus der Esse zog. Einzig die Feuerstelle mit ihren glühenden Kohlen und das Sprühen der Funken, wenn sie das Eisen mit dem Hammer traf, spendete ein wenig Licht. Vertieft in seine Arbeit hämmerte Fengur die Waffe aus dem Werkstück. Seit mehreren Nächten arbeitete der Wikingerjunge bereits an seinem Schwert und allmählich formte sich eine klar erkennbare Struktur heraus. Schweiß rann Fengur von der Stirn und malte schwarze Muster auf sein rußbeschmutztes Gesicht. Konzentriert folgte er seiner Arbeit, hämmerte immer wieder auf das Eisen ein, drehte und wendete es und schob es zwischendurch in die Esse, bis die aufsteigenden Funken plötzlich das Gesicht eines Mannes erhellten. Erschrocken taumelte Fengur zurück, worauf der Mann an der Feuerstelle amüsiert lächelte. Lange dunkle Haare flossen über seine Schultern. Sein Bart wuchs in zwei Strähnen entlang der Oberlippe und in zwei Strähnen unterhalb des Kinns. Lässig lehnte er an der Esse, die Arme vor seinem roten Klappenrock verschränkt. Er war groß, fast zwei Meter, so schätzte Fengur. Unwillkürlich zog der Schmiedgeselle das glühende Eisen aus dem Feuer und hielt es dem Fremden entgegen.
„Das wird ein gutes Schwert werden“, sprach dieser unbeeindruckt.
„Wer bist du? Was willst du hier?“, knurrte Fengur.
Der Fremde löste eine Hand aus der Verschränkung und schob die auf ihn gerichtete Klinge mit dem Zeigefinger von sich weg. Fengur stockte der Atem. Die Klinge glühte noch immer, doch der Fremde schrie nicht auf – sie fügte ihm keine Verletzung zu.
„Du lässt es besser im Feuer“, erklärte der Mann.
Fengurs Herz schlug schneller. Die Knie wurden ihm weich. Unendliche Angst packte ihn. Das musste ein böser Geist sein, ein Schwarzalb vielleicht, der ein Spiel mit ihm trieb, bevor er ihn tötete.
Der Fremde sah ihn herausfordernd an. „Was zitterst du, Junge? Hier ist es fast wärmer als in Muspelheim!“
„Kommst du von da?“, fragte Fengur ungewollt schnell.
Der Fremde lachte und Fengur schämte sich für seine Einfältigkeit. Nein, aus Muspelheim, dem Land der Riesen, mochte dieser Mann nicht stammen. Wie ein Thurse sah er wirklich nicht aus, vielmehr erinnerte er an … Fengur überlegte kurz und runzelte bei dem Gedanken die Stirn. Dieser Mann erinnerte ihn an eine Frau! Dunkle Augen stachen hell und wachsam aus dem schmalen Gesicht, feine geschwungene Augenbrauen zierten sie. Der dicke Klappenrock und der breite Fellbesatz ließen ihn kräftiger wirken, ebenso wie die Pumphosen – die umwickelten Waden jedoch waren dünn und spiegelten seine eigentliche Statur wieder.
„Ich komme aus Asgard“, erwiderte der Fremde.
„Unmöglich!“, schnaufte Fengur.
Der Mann antwortete mit einem herausfordernden Zucken seiner Augenbrauen. „Das Eisen wird schmelzen, wenn du es nicht herausnimmst.“
Fengur holte erschrocken Luft, zog das Werkstück aus der Glut und legte es auf den Amboss, um es mit gleichmäßigen Schlägen zu bearbeiten.
Der Mann trat neben ihn und schloss die Augen. Er lauschte. „Hörst du, wie es singt?“, schwärmte er.
Fengur blickte kurz auf und überlegte einen Augenblick, an welchem Pilz der Fremde geknabbert haben mochte. Dann schüttelte er den Kopf und hieb weiter auf das Metall ein.
„Du hast das Eisen mehrmals gefaltet“, erkannte der Mann. Er legte eine Hand auf den Amboss und hob den Kopf. „Der Singsang des Metalls ist so klar. Alle Unreinheiten haben sich gleichmäßig verteilt.“
Der Pilz musste doch gewaltig gewesen sein, dachte Fengur. „Tu nicht so, als könntest du die Reinheit des Eisens am Klang erkennen. Jeder weit und breit weiß, dass Eyjarrs Klingen die Besten sind“, murrte Fengur, während er das Werkstück zurück unter die Kohlen schob. Zwei Mal trat er auf den Blasebalg und führte den Kohlen neuen Sauerstoff zu.
„Du bist ganz schön keck dafür, dass du einem Gott gegenüber stehst.“
„Ich weiß nicht, welchen Trick du gerade angewendet hast, um das heiße Eisen zu berühren. Aber du bist weder ein Riese, noch bist du ein Ase“, stellte Fengur klar.
„Beides Mal falsch“, triumphierte der Fremde und ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Sondern? Welcher Gott willst du denn sein?“, höhnte Fengur. Doch kaum, dass er die Frage aussprach, wehte ihm die Antwort bereits durch den Geist. Es gab nur einen Gott in Asgard, dem Wohnort der Asen weit über der Weltenesche Yggdrasil, der von Riesen abstammte und mit Feuer spielte. Er riss die Augen auf. „Loki?“
Nach Luft schnappend hörte sich Thea noch den Namen des Feuergotts ausrufen, dann verschwammen die dunklen Farben, die ihren Geist eingenommen hatten, waberten vor ihrem Blick und gaben allmählich die Sicht auf ihre Umgebung frei. Sie begegnete den erwartungsvollen Augen der alten Norne, die erneut die Hand auf Theas Stirn legte. Abermals wurde sie von der Dunkelheit verschluckt und abermals fand sie sich in der Schmiede hinter dem Amboss wieder.
Das glühende Eisen erhellte die Schmiede und spiegelte sich im Wasser des Härtefasses wider, als Fengur es endlich aus dem Feuer genommen hatte. Tage der Arbeit würden nun ihre Vollendung finden. Dies war ein feierlicher Moment, wie Fengur fand und hoffentlich einer, der keine bösen Überraschungen brachte. Die falsche Glühtemperatur würde die Klinge nach dem Eintauchen spröde und unbrauchbar werden lassen. Tage hatte er an seiner Arbeit verbracht. Er hielt inne. Seit ihrem ersten Aufeinandertreffen war Loki nicht mehr in der Schmiede aufgetaucht und in Fengur war schließlich die Erkenntnis gereift, dass ihm seine Phantasie einen Streich gespielt hatte, oder er schlicht über seiner Arbeit eingeschlafen war. Doch jetzt klang der Mann aus seinem Traum plötzlich in seinem Gedächtnis wider: Schmiede dein Schwert fertig. Wenn es soweit ist, werde ich da sein. Fengur sah sich um. Loki war nicht zu sehen. Falls es doch kein Traum gewesen war, dann hatte der Feuergott wohl das Interesse an seinem Schwert verloren. Fengur seufzte tief, warf einen letzten Blick an die Stelle, an der Loki das erste Mal aufgetaucht war und erbebte.
Читать дальше