Bei der Aussprache mit der Lehrerin, die den Vater verlangte, der natürlich keine Zeit hatte, schützte er mich. Aber dann zu Haus bekam ich eine Tracht Prügel, mit einem Siebensträhler (ein Holzgriff, an dem sieben dünne Lederstreifen befestigt waren!!), die ich lange nicht vergessen konnte. Danach ein Gebet, um Gott für die Missetat um Verzeihung zu bitten.
Diese Lehrerin, Frau Gräber hieß die Dame, musste ich aber weitere zweieinhalb Jahre ertragen. 42 Eintragungen an die Eltern pro Schuljahr sind heute noch Familienrekord. Eines Tages kam die gute Frau nicht zum Unterricht. Es hieß, sie sei krank. In Wirklichkeit ist sie mit ihrer Familie in den Westen gegangen. Ob sie dort auch ihre Schüler schikaniert hat? Diese Frau und nicht zuletzt meine christliche Erziehung fügten es, dass ich fast zwei Jahre nach meinen Mitschülern den "JUNGEN PIONIEREN" beitrat (katholische Schüler schlossen sich total aus).
Die wöchentlich organisierten Pioniernachmittage waren recht interessant, aber regelmäßig nahm ich nicht daran teil, was auch keine Pflicht war. Meine Freizeit verbrachte ich weiterhin in der Natur des Friedrichsgartens oder in unserm Schrebergarten, wo ich auch einige Pflichten hatte.
Meinen Schulweg teilte ich mit meinem Großvater. Für ihn war es der tägliche Weg zu seiner Arbeit im Farbengeschäft. Jeden Morgen gab es einen Groschen, der beim Bäcker, an der Straßenecke, in ein doppeltes Kümmelbrötchen umgesetzt wurde. Ausgebombt, arm, aber stets gütig, hatte er immer etwas für mich, vor allem nahm er sich Zeit für meine Problemchen. Ich liebte ihn sehr und so bestand ich darauf, dass mein Bett in sein Zimmer gestellt wurde. Vor dem Einschlafen lauschte ich seinen Geschichten. Diese waren aus dem Leben gegriffen und mit sinnvollen Beispielen gespickt.
Er stammte aus einer armen Landarbeiterfamilie, hatte zwölf Geschwister, und hatte gelernt, alles zu teilen. Mein Großvater musste immer schwer arbeiten. Als Kind auf dem Gutshof, später als gelernter Schmied wurde er Soldat und danach ging er auf Wanderschaft, die ihn bis in den Elsass führte.
Lehrzeugnis 1917
Ob in einer Schmiede oder im Bergwerk, immer waren Geschick, Kraft und Ausdauer gefordert. Den Ersten Weltkrieg erlebte er als Pioniersoldat. Schwerstarbeit! Sprengen und Schaufeln, Bäume fällen, Balken schleppen und beim Brückenschlag bis zu den Schultern im kalten Wasser stehen, war sein soldatisches Tun.
In der Schule
Eine Wassersucht beendete seine militärische Laufbahn für den Kaiser. Auf der Sonnenseite stand er nie.
In der Weltwirtschaftskrise war er, wie viele Arbeiter, ohne Lohn und Brot. Das führte ihn zu den Rot-Front-Kämpfern, wo er Sanitäter war. Daran änderte sich auch nichts, als er in den Junkers-Werken Anstellung als Motorenprüfer fand.
Die einzigste Reise, die er sich leisten konnte, führte ihn in das Riesengebirge. Davon zeugten zwei Bilder, die ihn auf dem Gipfel der Schneekoppe zeigten. Davon war er bis zu seinem Tode begeistert. Nach dem Krieg trat er, wie mein Vater auch, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) bei. 1951 hat er die Partei verlassen, da er die Beschlüsse nicht mehr mittragen wollte.


Parteidokument Franz Henze (Opa H.)
Gegenüber der Kirche verhielt er sich ablehnend. Er sah keine Übereinstimmung zwischen Wort und Tat.
Naturverbunden wie er war, nahm er mich oft auf seinen Spaziergängen mit und öffnete meine Augen und Ohren für die Tiere und Pflanzen, die uns umgaben. Auch im Garten erklärte er mir viele Zusammenhänge über das Leben und die Pflege der Pflanzen. Er verstand es glänzend, die Stimmen der Vögel nachzuahmen und sie an ihren Silhouetten zu erkennen.
Um mein Interesse zu stärken, kaufte er mir mein erstes Aquarium und versorgte mich mit Literatur über die Welt der Tiere.
Ihm vertraute ich meine Sorgen an und holte mir seinen Rat. Er hatte viel Leid gesehen und erlebt. Seine Schule war das Leben. Oft waren seine Ratschläge Gold wert. Wunderbare Stunden erlebten wir, wenn er zu seiner Mundharmonika griff und die alten Lieder aus seiner Jugendzeit spielte. In seinen letzten Jahren war der Opa sehr krank. Zwei Jahre ein Pflegefall - eine sehr schwere Zeit für meine Mutter, die ihn pflegte. Mit bewundernswerter Tapferkeit ertrug er seine Leiden, obwohl keine Hoffnung bestand, geheilt zu werden.
Leider ist er viel zu früh, mit 73 Jahren, gestorben. In meinem Herzen lebt er noch heute.
1.3 Leben zwischen den Ideologien
Mein Hang zur Natur zeigte auch in der Schule Wirkung. Als in der 5. Klasse das Fach Biologie in den Lehrplan aufgenommen wurde, war ich kaum zu schlagen. Zu gerne hätte ich ein Mikroskop besessen, um die Experimente, die wir in der Schule machten, zu Hause fortführen zu können. So konzentrierte sich meine Tierliebe auf die Tauben, Hühner, Kaninchen, Wellensittiche und vor allem auf meine Aquarien. Obwohl ich gerne Hühner- und Taubenbraten aß, konnte ich es nicht ertragen, wenn die Tiere geschlachtet werden sollten.
In unserem Nachbarhaus, im Erdgeschoss, wohnte ein älterer, einfacher Mann bei seiner alten, betagten Mutter. Er hieß Wunderow und war ein begeisterter Aquarianer. Er besaß mindestens zehn Aquarien, die mit unzähligen roten und grünen Schwertträgern und Guppys aller Arten und Zuchtrichtungen bevölkert waren. Einige seiner besten Fische schenkte er mir regelmäßig, um mir Gelegenheit zur Nachzucht zu geben. So wurden wir Freunde. Wir trafen uns oft, denn er erwartete mich schon am Fenster seines Wohnzimmers. Gesprächsstoff hatten wir immer, denn über Zierfische zu reden, ist ein unerschöpfliches Thema. Als seine alte Mutter starb, hatte er sich dem Alkohol ergeben. Tief erschüttert war er vom Verhalten seiner Schwester aus Westberlin (die Grenzen waren noch offen!), die es nicht für nötig hielt zur Beerdigung zu erscheinen. Oft stand er weinend am Fenster und trank dabei “seine kleine Flasche blauen Würger“. Ein wenig später fand er eine Frau. Diese hatte zwei erwachsene Töchter, um die sie sich besonders kümmerte. In der bescheidenen Wohnung kehrte Ordnung ein - und die Fische verschwanden und somit sein letztes Vergnügen. Abends, am Fenster stehend, klagte er mir sein Leid. Er fühlte sich überflüssig und unverstanden und klagte: „Meine Schwester werde ich wohl nicht wieder sehen“ (Ja, jetzt waren die Grenzen geschlossen). Der Kummer und der Alkohol machten ihn kaputt. Später, an seinem Grab, stand dann endlich seine reiche Schwester aus Westberlin. Er aber starb so, wie er immer war, als ein armer, bescheidener Kerl.
Seine Sachen wollte niemand. Die wanderten alle auf den Müll, einschließlich einiger Aquarien, die man noch im Keller fand.
In der Schule gab es einige strukturelle Veränderungen. Wir bekamen einige neue Lehrer, aber auch einige Mitschüler verabschiedeten sich. Zum Teil gingen sie mit ihren Eltern in den Westen. Dann gab es keine Gelegenheit sich zu verabschieden. Wer noch Gelegenheit dazu hatte, sich zu verabschieden, zog garantiert in eine andere Stadt innerhalb der DDR. So auch mein Klassenkamerad Martin B. Er wurde Kadett. Die Kadettenanstalt, einzigste Einrichtung dieser Art in der DDR, befand sich in Naumburg. Stolz und von dem Willen beseelt ein guter Flieger zu werden, zog er von Dannen. Auch Angelika W. verabschiedete sich. Sie sollte im Fernsehen der DDR eine bekannte Nachrichtensprecherin werden, während Martin kein Glück hatte. Die Kadettenanstalt wurde nach kurzer Zeit, als misslungenes Experiment, wieder geschlossen. Obwohl sie in langer Tradition stehend, auch gute Heerführer hervorbrachte, war sie nach Ansicht der Partei- und Staatsführung mit den sozialistischen Grundgedanken nicht vereinbar. Sie wurde in eine Weiterbildungseinrichtung und später als Fremdspracheninstitut der NVA umfunktioniert.
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