Von der zweiten Klasse an verbrachte ich einen großen Teil meiner Sommerferien in Schortewitz, im Geburtshaus meines Großvaters bei dessen jüngerer Schwester. Diese hatte im Krieg ihren Sohn verloren und wenig Jahre später, zu Beginn der fünfziger Jahre, ihren Mann. Alle nannten sie Tante Minna. Sie war eine herzensgute Frau mit schlohweißen Haaren.
Alte Ansichtskarte von Schortewitz
Wir bekamen eine neue Klassenlehrerin, eine junge Frau mit großen Plänen. Leider konnte sie sich nicht durchsetzen. Schwammschlachten während des Unterrichtes, die auch die Bilder an den Wänden nicht ungeschoren ließen, führten dazu, dass unsere Leistungen ins Bodenlose sanken.
Als dann sogar Eierkohlen zu Wurfgeschossen wurden, die Lehrerin in Tränen ausbrach und jeder tat, was er wollte, musste eine harte Hand her. Es kamen gleich zwei, besser vier. Zwei Lehrer, in eingefärbten Stiefelhosen, Chromlederstiefeln und statt der üblichen Aktentasche trugen sie eine KVP (NVA)-Kartentasche.
In der Schule begann eine neue Ära, geprägt von zwei gedienten Ex-Offizieren, Jansen und Schnittke. Dazu aber später.
Die neue Ära begann mit der Abberufung der Direktorin, Frau Engels. Eine engagierte Frau verließ die Schule und die Gemeinschaft der Lehrer begann zu bröckeln. Die von ihr mit viel Enthusiasmus gegründete Schalmaienkapelle löste sich in Wohlgefallen auf. Die nach gut bürgerlichem Stil gehütete Aula (als letzter Bauabschnitt des Wiederaufbaus der Schule fertig gestellt) wurde zur profanen Turnhalle umfunktioniert. Der Hausmeister zog mit seiner Familie aus der Kellerwohnung in einen Neubau. In den ehemaligen Wohnräumen kam der technische Teil der Zentralheizung, so dass die Kohleöfen in den Klassenräumen ihre Funktion verloren. Weiter wurden Klassenzimmer speziell für den Physik- und Chemieunterricht eingerichtet, die man heute sicher Lernkabinett oder ähnlich bezeichnen würde.
Ich kam in die 5.oder 6. Klasse, als diese Maßnahmen (einschließlich neuer Fahrradaufbewahrungsplatz mit Parkkarte) fertiggestellt waren.
Der Unterricht plätscherte so dahin. Die Lehrerin spulte den Lehrstoff ab, immer in der Angst, dass einer ausrasten und durch grobes Verhalten den Unterricht stören könnte. Wie grausam wir sein konnten, kam mir erst viel, viel später zu Bewusstsein, denn unser Fräulein Schmiedes wollte uns ja nur etwas beibringen, uns auf die Zukunft vorbereiten und wir haben uns benommen wie eine Rotte Wildschweine. Wir hatten nichts begriffen, sondern die junge Frau gequält und zur Verzweifelung getrieben, weil sie unser Bestes wollte. Dafür sollten wir uns schämen.
Einer unserer Mitschüler hatte sich wieder einmal so recht daneben benommen und wurde durch unsere Lehrerin, unter dem Gejohle der Klasse, des Raumes verwiesen. Er ging mit höhnischem Grinsen und mit dummen, beleidigenden Worten auf den Flur. Dabei knallte er die Tür so zu, dass die Zarge bebte. Das Geräusch war noch nicht verklungen, da sprang die Tür wieder auf und unser Mitschüler flog, sich überschlagend, zurück in den Klassenraum. Schneller als er kam einer der neuen Lehrer in Stiefelhosen in den Raum. Er stand schon am Lehrertisch, die Arme vor der Brust verschränkt, da saß unser Mitschüler noch verwirrt auf dem geölten Parkettfußboden. Die Klasse war erstarrt. Es war still, so still, dass es unheimlich wurde.
„Schade“, sagte der "Neue"; „das ich mich auf diese Weise vorstellen muss“. „Ich bin euer neuer Klassenlehrer, Fräulein Schmiedes übernimmt eine Klasse der Unterstufe. Dass, was ich hier heute erlebt habe, will ich nie wieder erleben und die Rolle rückwärts eures Mitschülers sollte allen Mahnung genug sein“. Die Entschlossenheit des “Neuen“ beeindruckte alle und nie wieder gab es ähnliche Vorkommnisse und entsprechende Reaktionen durch einen Lehrer.
Der Grundstein für eine gute, effiziente Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Schüler war gelegt, zwar sehr ungewöhnlich, aber wirkungsvoll.
Wir wurden zu einer guten verschworenen Gemeinschaft, die bis zum Ende der 8. Klasse bestand.
Ab sofort zählte nicht mehr das größte Maul, die unflätigste Bemerkung und der schnellste Hieb, sondern schulische Leistung, Gemeinschaftssinn und echter Humor und Witz.
Herr Hansen, der neue Lehrer, erwarb mit Riesenschritten unser Vertrauen. Seine Gabe, war die genaue Beobachtung und Einschätzung unseres Verhaltens. Das führte nicht nur dazu, dass jeder einen treffenden Spitznamen erhielt, sondern er packte fast jeden an dessen Schokoladenseite, um die vorhandenen Leistungsfähigkeiten freizusetzen, die dann in guten Noten ihren Ausdruck fanden.
1962. Neunte Klasse. Angeregt durch meine große Liebe, Renatchen, lernte ich, mit zaghaften Schritten, politisch zu denken. Die Zeitung las ich aufmerksamer, stöberte in Vaters großen Bücherschrank nach politischen Schriften von Marx und Engels und kaufte hin und wieder die Tageszeitung "Junge Welt", für junge Leute gemacht. Wir gingen auch ins Kino, was mir des Glaubens wegen, eigentlich verboten war, aber ich setzte mich darüber hinweg. So erschloss ich mir eine „neue" Welt, die für Renate ganz alltäglich war.
Seit den Grenzbefestigungen vom August 1961 war noch nicht ein Jahr vergangen. Die unmittelbare Kriegsgefahr und die Flüchtlingsorgie des Kalten Krieges waren vorbei. Die Enttäuschten, Verbitterten, Enteigneten oder die aus falschen, nichtigen, egoistischen Gründen die DDR verlassen hatten, füllten nicht mehr die Auffanglager des Westens, fütterten nicht mehr die westlichen Geheimdienste mit Informationen, feilschten nicht mehr um die Anerkennung als politische Flüchtlinge.
Bei uns, den bodenständigen, den Hierbleibern blühte der illegale Handel mit der so genannten “Schundliteratur“. Für die Hefte von "Tom Brox", "Billy Yenkiens", "Mickey Maus", "Fix & Foxi" und wie sie noch hießen, stieg der Preis, weil der Nachschub aus Westberlin ausblieb. Die noch im Umlauf waren wurden immer unansehnlicher, weil sie von Hand zu Hand gingen. Echte Jeans waren absolute Mangelware und wurden jetzt mit ca. 200,- MdN gehandelt. Eine Grabesstille war jedoch nicht ausgebrochen. Im Gegenteil, der Staat blühte auf. Die Gesellschaft bewegte sich und wir jungen Leute strebten nach sinnvoller Diskussion und Betätigung. Die Schule war nicht mehr ein Ort der Qualen, sondern auch Treffpunkt am Nachmittag. Wir leisteten auch einen Beitrag, in dem wir den noch gut erhaltenen Keller unserer, nur zur Hälfte wieder aus - und aufgebauten Schule in Beschlag nahmen und den Ruinenteil zum Schießstand ausbauten. Bürokratische Hürden brauchten wir nicht zu überspringen, denn es war Aufbruchsstimmung. Die Schalmeiengruppe wurde wieder gegründet. Im Sport bestimmten Schul- und Kreiswettkämpfe der Leichtathletik, sowie Pionierfriedensfahrten das Geschehen. Der besten Schule winkte ein Ferienlager, drei Wochen in Ungarn. Die Sieger hatten 30,00 MdN zuzuzahlen.

Unsere Klasse 1962/63
In den Sommerferien gingen wir arbeiten, maximal drei Wochen waren erlaubt und schnell 500-600 MdN hinzu verdient. Ich arbeitete in einer Privatbrauerei, füllte Flaschen ab und vertrat den Haus - und Hofarbeiter. Renate betreute jüngere Schüler bei den Ferienspielen.
Die Stimmung unter meinen zeitweiligen Kollegen war gut. Es blieb noch Zeit für einen Schwatz, und auch gutwilligen Scherzen war man nicht abgeneigt. Der Heizer bereitete Brühpolnische Würste in der heißen Asche zu und auch der Bäcker an der Ecke sah uns jeden Tag. Wen der Hunger besonders plagte, der konnte auch ein warmes Mittagessen bestellen (Preis: 1 MDN).
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