Viele Jahre später habe ich erfahren, dass dies am 17. oder 18. Juni 1953 passierte. Die Konterrevolution hatte nicht gesiegt. (Heute spricht man von einem "Volksaufstand" gegen das kommunistische Regime)
Zeitungsausschnitt vom Juni 1953
In der Schule war es wie überall in dieser Zeit. Im September 1953 war mein erster Schultag. Mutter begleitete mich, aber an die Hand nehmen ließ ich mich nicht, denn ich war ja ein Schulkind. Meine Sorge bestand trotz aller Freude darin, dass sich die seelischen Qualen, die ich im Kindergarten verlebte, sich nicht wiederholten. Es wiederholte sich nicht!
Ich kam in die Grundschule IX. Aber vorerst in ein Gebäude neben der Katholischen Kirche. Dort gab es nur vier Klassenzimmer für die ABC-Schützen. Warum wohl? Die Frage kann nur jemand stellen, der diese Zeit nicht kennen gelernt hat. Diese Grundschule IX war ein, im Wiederaufbau befindlicher Trümmerberg. Es war die frühere Mädchen-Bürger-Schule, in der meine Großmutter das ABC schon gelernt hatte. Trotz größter Anstrengungen der Menschen, und auch die der Regierenden - man legte großen Wert auf die Schulbildung der Jugend - war die Schule nicht rechtzeitig fertig geworden.
Nun zurück in unsere erste Klasse. Wir waren fast dreißig Kinder. Alle mit Ranzen und Zuckertüte, nach altem Ritual. Größe und Inhalt waren sehr unterschiedlich, auch die Kleider, die ein jeder trug. Alle trugen das Beste, was sie hatten, waren sauber und voller Erwartung, was dieser Tag und die folgende Zeit wohl bringen würde. Das Etui war ein Holzkästchen. Darin war ein Federhalter mit zwei Federn, ein gut gespitzter Bleistift (Großvater hatte sich mit seinem Taschenmesser sehr viel Mühe gegeben), ein Radiergummi und zwei Griffel (Schieferstifte) zur Benutzung der Schiefertafel. Ein kleiner Schwamm hing am Faden außerhalb des Ranzens. Die Schulbücher waren kostenfrei ausgegeben worden. Teilweise schon einmal gebraucht, aber mit einem neuen Umschlag, bei einigen aus Packpapier, sahen sie wieder aus wie neu. Schulhefte mussten gekauft werden. Die Lehrerin, Fräulein Scholz, eine nette ältere Dame mit schlohweißem Haar, hatte für säumige oder minder bemittelte Schüler immer einige Hefte in ihrer Handtasche.
Wir kauften meine Hefte in einem Laden in der Karlstraße. Dieser wurde von einem Ehepaar, die, zusammen sicher 150 Jahre alt waren, unterhalten. Der Laden bestand aus zwei für uns sichtbaren Räumen, unmittelbar dahinter befand sich die Wohnung der Alten. Sie waren sehr freundlich in Wort und Tat, aber der Laden sah nie aufgeräumt aus. Bis unter die Decke Regale mit allerhand Kram, je höher umso staubiger. Etliche Lauser nutzten das auch aus, um die alten Leutchen zu beklauen. Als einige Jahre später der Laden geschlossen war, sagte Mutter nur: "Die Lauriecks sind tot." Schade, denn der Laden war eine wahre Fundgrube.
Mit dem Lernen und der Anpassung an das Klassenkollektiv hatte ich keine Probleme. Meine angeborene schnelle Auffassungsgabe führte dazu, dass ich mich sogar manchmal langweilte. Besonders dann, wenn die Lehrerin anderen Schülern die Aufgabe nochmals erklärte. So war es nicht einmal ungerecht, wenn ich wegen mangelnder Disziplin zur Ordnung gerufen wurde. Äußerst ungerecht empfand ich die Tatsache, dass die Lehrerin noch Hausaufgaben vergab, die meist bis zum kommenden Tag zu erledigen waren. Nach der Schule, am Nachmittag, noch Schulaufgaben zu erledigen empfand ich als die größte Strafe. Die ersten zehn Hausaufgaben habe ich nur unter strengstem Zwang ausgeführt. Dabei haben nicht wenige Wasserflecke (Tränen) das Heft verziert. Nach und nach habe ich mich dann auch an diese Aufgaben gewöhnt und sie pünktlich und in guter Qualität vorgelegt.
Unsere Klasse war ein Querschnitt der Menschen dieser Zeit. Nur ein Junge fiel auf. Er hieß Harald und begann die erste Klasse zum dritten und letzten Mal. Als Einjähriger war unter den Trümmern verschüttet, und hatte dabei seine Mutter verloren. In unregelmäßigen Abständen fiel er um, einfach so aus der Bank, schrie und schüttelte sich. Dann herrschte in der Klasse helle Aufregung. Viele hatten auch Angst.
Nach jedem Anfall wurde er nach Hause gebracht. Niemand wollte helfen. Ich meldete mich, obwohl mir nicht wohl dabei war. Bei ihm zu Hause angekommen, erzählte mir seine Pflegemutter von seinem Schicksal. Ich war sehr bewegt und mein Mitgefühl für diesen Jungen war geweckt. Den übrigen Mitschülern der Klasse blieb er unheimlich. Also beschloss man eines Tages, das Übliche, von den älteren Schülern übernommene: Klassenkeile! Wie sollte ich mich nun verhalten? Zu Harald gewandt, sagte ich: "Keine Angst, die schaffen uns nicht!" Dabei hatte ich auch meine Bedenken: Hoffentlich bekommt er keinen, der so furchtbaren Anfälle. Seine Krankheit verschonte ihn diesmal, die "Klassenkameraden" aber nicht. Als Worte nicht mehr halfen, begann die Keilerei, wobei auch ich etwas abbekam. Plötzlich hatte ich, der Geyer weiß woher, ein Stück Holzlatte in den Händen und schlug wahllos um mich, traf auch fürchterlich und beendete schnell den ungleichen Kampf. Tränen der Wut vergießend, den Schmerz nicht fühlend, brachte ich den kranken Jungen auf Umwegen nach Hause. Wenige Tage später wurde er aus der Schule genommen. Einige Male sah ich ihn noch vor seinem Haus, dann verzog er mit seinen Eltern in eine andere Stadt. Ich blieb und mit mir die Ansicht einiger Lehrer und Eltern von Mitschülern: B. ist ein Rowdy.
Ich aber hatte meine erste, aber noch lange nicht letzte Schulschlacht als moralischer Sieger beendet. Weitere sollten folgen.
Ich sah mich auch in den folgenden Schuljahren als Fels der Gerechtigkeit, als der "Rächer" all derer, die gehänselt und geschlagen wurden.
Ein Hinweis genügte und ich war zur Stelle, um den Schwachen zu helfen. Die Lehrer sahen das anders, aber ich konnte damit gut leben.
In der Ausbildung brachte ich gute Ergebnisse, kam aber einmal zu spät zum Unterricht. Dieser begann erst 12:30 Uhr und sollte 3 mal 45 Minuten dauern. Ich hatte nur 45 Minuten Unterricht. Die übrige Zeit hatte ich als "Indianerhäuptling" im Friedrichsgarten verbracht. Mutter hatte mich gesucht und ein wenig geschimpft, vom Vater gab es eine Ohrfeige und mein Lieblingsopa kaute schmunzelnd auf einem alten Pflaumenkern und sagte: „Reiß dich zusammen, Bursche!“
1954 wurde die Klasse neu formiert und in eine rekonstruierte und modern ausgebaute Schule umgesiedelt. Das große rote Backsteingebäude hatte helle, freundliche Räume mit großen Fenstern, modernen Bänken und Tischen. Es gab eine Aula, die auch gleichzeitig als Sporthalle genutzt werden konnte und im Keller einen Speiseraum, in dem täglich für einige Pfennige ein viertel Liter Milch und Schulspeisung guter Qualität ausgegeben wurden.
Im Keller wohnte auch der Hausmeister mit seiner Familie und wachte eifersüchtig, dass wir in unserer Wildheit nicht etwas zerstörten. Im Winter heizte er die Öfen und als es Mode wurde mit dem Drahtesel (besser waren unsere Fahrräder wirklich nicht) zur Schule zu fahren, baute er mit viel Mühe einen überdachen Fahrradstand. Die Bäumchen und Sträucher um unseren Schulhof pflegten wir unter seiner fachkundigen Anleitung. Sein Eifer war grenzenlos und wenn jemand etwas zerstörte, oder, was selten vorkam, eine Frühstückstulle im Papierkorb landete, konnte er auch sehr ungemütlich werden. Eine Ohrfeige, die er einem Schüler gab, beendete sein Wirken jäh.
Unsere Lehrerin der ersten Klasse kam nicht an die neue Schule, sie ging in den verdienten Ruhestand. Ihre Ruhe und Erfahrung, sowie ihre Fähigkeit einen interessanten Unterricht zu gestalten vermissten wir sehr. Die "Neue", etwa dreißig Jahre alt, war hektisch, launisch und oft ungerecht. Das reizte meinen Widerspruch ungemein. Bald waren wir ein Paar. Meine Leistungen schwankten, wie die Art und Weise ihrer Bewertung. Als ich dann beim zwanzigsten Eintrag in das Tagebuch (oft auch Mutti-Heft genannt) Vaters eigenwillige Unterschrift nachmachte, war der Krieg entflammt und ohne Mühen nicht mehr zu beenden. Gustav, mein Großvater, zu der Zeit auch noch Priester, aber nicht mein Lieblingsopa, klärte diesen Fall auf seine Art.
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