
Die sterblichen Reste von Vaters Onkel liegen in russischer Erde
Wie aber sah diese Welt aus, in der ich da hinein geboren worden war? Zwei Jahre zuvor hatte der Krieg auch meine Heimat erreicht. Nicht nur die Traueranzeigen für die “Helden“, die ihr Leben für fremde Gelüste gaben zeugten vom Niedergang des Faschismus.
Der Krieg kam in Form von Spreng- und Phosphorbomben, Luftminen und anderen Spezialitäten englischer und amerikanischer Luftwaffen dahin zurück, von wo er ausgegangen war. Meine Heimatstadt, die Stadt, die einstmals Haupt- und Residenzstadt war, wo der Erfinder und Ingenieur Hugo Junkers unter anderem auch berühmte Flugzeuge entwickelte und in Serie bauen ließ, war zu 85% in Schutt und Asche gelegt - von Menschen in Flugzeugen mit englischen oder US-amerikanischen Hoheitszeichen.
Der Krieg hatte aber schon gezeigt, dass es auch mit höchst massierten Bombardement und Feuer nicht gelingt tausende Menschen sofort zu vernichten. Die Wucht des Feuers ist vor allem gegen die Seele, gegen den Willen der Menschen ausgerichtet. Sie trennt Nervenknoten durch, wie es der beste Chirurg nicht besser kann und dringt in den Menschen ein, erschüttert Schädel und Gehirn. Wer es bis dahin nicht wusste, spürt nun, dass der menschliche Körper etwas ungemein Zerbrechliches ist, was augenblicklich ausgelöscht sein kann. So versuchten die westlichen Alliierten Kriegsverbrechen der deutschen Seite mit gleicher Münze heimzuzahlen.
Die Jahre des Faschismus, der Kriegsvorbereitung und der Krieg hatten, mit fortschreitender Dauer und Grausamkeit die Sitten verdorben, die Kulturen zerstört, die Gefühle verroht und viele gesellschaftliche Normen des Zusammenlebens der Menschen außer Kraft gesetzt.
Lebensgemeinschaften waren durch den Tod des Mannes zerstört. In einigen Jahrgängen wuchs die Hälfte aller Kinder ohne Vater auf. In den Wirren des Krieges und der Zeit danach wurde aber auch eine Menge Kinder, gewollt oder ungewollt, gezeugt und geboren, deren Väter unbekannt blieben.
Manche Familien hörten auf zu existieren, wurden ausgelöscht. Der Mann fiel an der Front, Frau und Kinder wurden im Hinterland Opfer anglo - amerikanischer Bomben oder starben auf der Flucht.
Kriegswitwen und Frauen, die den Rest ihrer Tage auf den vermissten Sohn oder Ehemann warteten, waren nicht selten.
Noch waren die Massen abgestumpft, gierig und hungrig. Der Krieg hatte sie verdorben, die Hemmschwelle Gewalt anzuwenden, war sehr niedrig. Wem es gegeben war, Schuld zu erkennen, der schämte sich in aller Stille, wie es bei den meisten Menschen üblich ist, die im Bewusstsein Gutes zu tun, grobe Fehler machten.
Ein geringerer Teil der ehemaligen Faschisten, die sich an Leib und Leben Unschuldiger vergangen hatten, waren bzw. wurden isoliert. Sie saßen teilweise am gleichen Ort, hinter dem gleichen Stacheldraht, wo sie vor mehr als zwei Jahren selbst die Herren über Leben und Tot Anderer waren. Sie flohen dorthin, wo man sie ungeschoren ließ, zum Beispiel nach Südamerika oder sie holten sich in den westlichen Besatzungszonen für 50 Mark den Persilschein, der ihre Entnazifizierung bestätigte.
Die Mehrheit der Menschen, die im Osten Deutschlands ihre Heimat hatten oder als Flüchtlinge fanden, plagten andere Sorgen. Aus totaler Lethargie, Stillstand und dem Zwang, überleben zu müssen, war ein wenig Zukunft,
Traum und Aktivität geworden. Es war eine harte Zeit, denn der Kampf ums Überleben wurde erbarmungslos geführt. Ein großer Teil unsere Familie hatte Glück - Haus und Hof blieben fast unversehrt.


Bild 1: Unser Haus in Dessau, Eduardstraße 36 blieb erhalten (Vorkriegsfoto)
Bild 2: Blick auf den Hof mit Taubenschlag
Die Wohnung blieb erhalten und für meinen Lieblingsopa und seiner todkranken Frau war auch noch Platz. Sein bescheidenes Häuschen hatte eine "verirrte" Bombe getroffen und total dem Erdboden gleich gemacht. Sicher sollte der Pilot Teile der Junkers-Werke vernichten, aber der Gedanke an eine geringere Kriegsbeute oder die Angst vor Strafe, seine Mittel nicht effektiv eingesetzt zu haben, ließ ihn seine Bombenlast auf das kleine unscheinbare Häuschen nahe des Junkers-Werkzaunes werfen. Er hatte gut gezielt und nichts blieb übrig, außer Schutt und Asche.
Die Versorgung war mangelhaft und so reihten sich meine Eltern in die Schar derjenigen ein, die über das Land zog und von den Bauern, für so manches edle und wertvolle Gut, ein paar wenige Lebensmittel eintauschten. Eine Ziege, Kaninchen und Hühner, sowie die Früchte aus dem "Schrebergarten" leisteten einen kleinen Beitrag zu unserem bescheidenen Lebensstandard, waren aber mit viel zusätzlicher Arbeit verbunden. Nicht zu vergessen war die stattliche Zahl der Tauben, die außer Kosten wenig einbrachten. In Erinnerung blieben mir aber auch vortreffliche Suppen mit Taubenfleisch oder gebratene Täubchen als Sonntagsessen.
Geht man davon aus, welches Leid und welche Vernichtung deutsche Soldaten über andere Länder und Völker brachten, so lebten wir beinahe fürstlich. Menschen, die vorher so lebten, hatten sich abgesetzt, waren von der Roten Armee abgeholt worden, oder sie verbargen ihre wahre Identität (siehe oben). Von alledem bemerkte ich wenig, wurde aber später oft darauf hingewiesen.
Schon ab meinem fünften Lebensjahr war ich ein naturverbundenes Kind. Täglich, wenn es hell wurde, ging es auf die Straße. Meine liebsten Spielzeuge waren ein alter Roller, ein alter, verschlissener Tennisball und viele Ruten und Stöcke, die je nach Bedarf einen Hirtenstock, eine Pistole, ein Messer, einen Säbel oder einen Degen, Pfeil oder Lanze darstellen sollten.
Der liebste Tummelplatz war die unweit des Hauses beginnende Auenlandschaft. Das ist ein, mit uralten Eichen und jüngeren Büschen bewachsenes Wiesengebiet, in deren Mitte der Fluss verlief. Begrenzt durch einen Bahndamm, auf der die "W-Eisenbahn" verkehrte, erzeugte dieser Fluss Freud und Leid, Glückseeligkeit aber auch Trauer. Er konnte wunderbar oder auch unerbittlich sein.
Während des Sommers Trockenheit konnte ich Biber und Enten beobachten und das zahme Flüsschen machte seine Inseln für uns begehbar. Im Herbst und Winter jedoch, manchmal schon im Frühjahr, wurde er unberechenbar und grausam zu Mensch und Getier in seiner Umgebung. Aus dem kleinen Flüsschen wurde ein starker unberechenbarer Strom. Über die unbefestigten, naturbelassenen Ufer getreten, vernichtete er alles, was sich ihm in den Weg stellte - Menschen mit ihren Behausungen, die Tier- und Pflanzenwelt. Der zurückbleibende Schlamm wiederum machte den Boden so fruchtbar, so dass sich die Natur rasch erholen konnte.
Kleine Senken, ehemals Bombentrichter, als Wahrzeichen des kaum vergangenen Krieges, füllten sich mit dem Restwasser und gaben Fröschen, Molchen, Salamandern und kleinen Fischen neuen Lebensraum.
Dort hielten wir uns oft auf, obwohl mein Großvater immer sagte: "Gehe nicht an den Fluss, denn Wasser ist schlimmer als Feuer". Doch seine Anziehungskraft war größer als die warnenden Worte der Alten.
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