„Macht dir das Spaß?“, fragte Peer.
„Warum fragst du?“, wollte Brokat wissen.
Das wusste Peer natürlich selbst nicht recht. Er fand die Frage einfach naheliegend. Was er aber mit Gewissheit sagen konnte, war, dass er er sich wünschte, Brokat würde noch ein wenig bleiben. Er wollte den Abend nicht allein ausklingen lassen und ihm fiel auch sonst niemand ein, der noch spontan an einem Werktag seine Worte ertragen wollte.
„Ja, eigentlich habe ich wirklich Freude an meiner Arbeit“, sagte sie dann.
„ Eigentlich ?“, stocherte Peer nach.
„Kein aber. Ich mag es. Ich verdiene Geld, manchmal habe ich sogar Spaß dabei und nicht alle Typen sind schmierige Schweine, die sich einfach was Gutes leisten können. So ist das nicht. Die meisten wollen mit ihrem Geld ihre Macht zeigen und glauben, sie bekommen alles. Sogar, wenn sie sich eine Domina nehmen, beweisen sie ihre Macht dadurch, dass sie sie bezahlen. Aber viele sind auch einfach - .“ Hier unterbrach sie ihren Satz und schaute in das Wasserglas. Es war halb geleert.
„Viele sind wie – ?“, fragte Peer ahnend.
„Wie du“, gab Brokat dann zu und schämte sich ein wenig für die Aussage. „Haben Geld, aber sind unsicher und irgendwie schwierig zu fassen. Ich meine, wir hatten Sex. Ist ja einfach für einen Mann wie dich und eine Frau wie mich. Das volle Programm kann ich natürlich jemandem wie dir gern bieten. Ich habe da keine Probleme. Aber du warst nicht bei der Sache, Peer. Meistens ist das so, wenn der Klient verheiratet ist.“ Brokat machte eine bedeutungsschwere Pause und schaute noch immer ins Glas. Es war kein Alkohol darin. „Bist du verheiratet? Wäre mir egal, ich will es nur wissen.“
„Nein, bin ich nicht“, antwortete der ledige Archetyp eines Freiers.
„Schwul?“, sprach Brokat ihre nächste Überlegung an. Im Glas waren nur langweilige Wasserstoffbrückenbindungen und ein paar Spurenelemente.
„Nein!“, kam es schnell zurück.
„Was beschäftigt dich dann?“, wollte Brokat wissen. Sie ärgerte sich enorm ob ihrer Unprofessionalität. Eigentlich konnte sie diesen Mann nun einfach wieder in sein Leben entlassen.
„Geld“, sagte Peer dann nach einigem Überlegen. „Mich beschäftigt Geld. Ich werde wohl sehr viel Geld erhalten. Und ich weiß nicht, wie ich das ausgeben kann. Ich zerbreche mir den Kopf schon den ganzen Abend darüber. Aber ich komme zu keinem Schluss. Und eigentlich verdiene ich genug. Ich brauche dieses Geld nicht einmal. Aber ich muss es nehmen.“
„Dann gib es mir“, sagte Brokat. Wieder so ein Fehler im Ausdruck, der ihr an anderer Stelle nicht passiert wäre. Aber es war ja schließlich schon spät und das stille Wasser hatte ihr nicht gut getan.
„Ich kenne dich doch gar nicht“, gab Peer wenig abweisend zurück. Der Gedanke, einer Wildfremden sein Geld zu geben, erschien ihm immerhin logischer als alles andere, was bisher seinen Tag versaut hatte.
„Stimmt“, antwortete sie und schaute durch das mittlerweile geleerte Glas in Peers Gesicht. „Aber wir können uns kennenlernen. Und dafür müsstest du mich eh vorerst bezahlen. Schauen wir doch, wie es wird. Und ich will, dass du mich richtig kennenlernst. Und zwar jeden Aspekt meines Körpers zum Beispiel. Du hast etwas, was mir Spaß macht, Peer.“
„Danke. Was denn?“, fragte er. Er hatte angenommen, sich im Bett ziemlich blamiert zu haben, aber das kam häufiger vor, wenn es mit einer unbekannten Frau geschehen sollte. Daran gewöhnte man sich.
„Du bist ruhig, du bist harmlos, du magst Ordnung. Die Haustür unten quietscht, deine Wohnungstür ist aber geschmeidig. Du schenkst Wein sogar perfekt ein, wenn du getrunken hast und ich habe noch nie ein so sauber gemachtes Bett gesehen. Und du hältst beim Ficken einen perfekten Viervierteltakt.“
„Super“, kam es nur geschlagen zurück.
„Danke für den Wein. Das Geld nehme ich mir, ja? Habe es schon gesehen. Und ich sag der Agentur, sie sollen dir meine Karte schicken. Da steht alles drauf: Telefonnummer, Maßen, Bild von mir. Du bist dann ein V.I.P. “, verabschiedete sich Brokat und zog sich schnell wieder an. Keine Dusche, kein letzter Kuss, gar nichts. Nur das Davonfliegen einer neuen Erfahrung, die auch eine neue Erfahrung gemacht hatte.
Peer war am Abend des ersten Aprils immerhin schon 1220 Euro losgeworden (Brokat hatte ihm „nur“ 1200 Euro in Rechnung gestellt, was eigentlich noch immer zu viel dafür war, dass sie den Abend nicht mit ihm ausklingen ließ) und legte sich kurz nach Mitternacht ins Bett. Er versuchte zu beten, weil er sich davon etwas versprach, aber es mochte ihm nicht so recht gelingen. Dann versuchte er, zu verstehen, warum er sich nicht anders fühlte als sonst und schob es einfach darauf, dass er angetrunken war und deshalb nicht genug Feingespür für sich selbst haben konnte.
Immerhin hatte er gut getrunken und eine schöne Frau in seinem Bett gehabt. Als durchschnittlicher Mann war er damit zufrieden, als Mensch war er schlichtweg einsam. Aber auch die Einsamkeit ertrug er als fühlendes Wesen ganz gut. Er sagte sich, dass neue Tage neues Glück brächten – daran glaubte er tatsächlich.
Hätte das Gesamte der Existenz einen Plan für die Ereignisse gehabt, dann wäre die Pointe eventuell „ April, April! “ gewesen. Die Existenz hätte Peer angerufen, oder ihm eine Gummischlange auf die Schulter geklatscht. Aber es handelte sich eben nicht um einen großen kosmischen Scherz.
Aber da es Peer wie allen Menschen ging, war da nichts, was ihn ausgeklügelterweise in diese Situation gebracht hatte. Niemand hatte die Welt so hergerichtet, dass genau er an genau diesem Tage diese Dinge erlebte. Sie waren einfach passiert und damit hatte sich die Sache für die Götter auch schon erledigt.
Das Einmischen durch irgendeine höhere Macht war zu diesem Zeitpunkt aber die leichter zu verstehende Erklärung für Peer Flint.
Von Briefzustellungswegen und toten Hunden – 2. April, ca. 08:00
Peer erwachte gegen acht Uhr. Verkatert war er nicht. Er stellte sofort fest, dass er es nicht mehr pünktlich zur Arbeit schaffen würde. Darum entschied er, es einfach ganz aufzugeben, sich in sein Büro zu setzen und die nächste Lieferung Kugelschreiberkappen aus China zu ordern. Das war ohnehin eine zutiefst langweilige Aufgabe, die man in ein ein paar Worten zusammen fassen konnte: Bestandsüberprüfung, Bedarfserfassung, Lieferantenauswahl, Stückzahlpreisdrückereiverhandlung, Email an den Logistikmenschen.
In diesen Dimensionen hatte sich seine berufliche Laufbahn bisher bewegt. Allerdings betrat er diese Dimensionen bisher immer pünktlich um halb neun, was ihn eben nun dazu veranlasste, einfach gar nicht zu erscheinen. Pünktlichkeit war ihm eine dieser Tugenden, die er einfach beherrschte. Nicht, dass er sie von anderen erwartet hätte – es war nur einfach so, dass dieser Langweiler im billigen Anzug stolz darauf war, pünktlich in seinem Büro über dem Verkaufsraum zu sitzen.
Das Zimmer mit der Nummer 16 war allein seines. Sein Name stand darauf, er bediente einen uralten Rechner und telefonierte. Und ab und an tauschte er sich mit den Verkäufern aus und unterhielt seinen Vorgesetzten über die aktuellen Entwicklungen des Markerabsatzes. Zu Beginn eines jeden neues Schuljahres waren natürlich immer alle ganz aus dem Häuschen, denn der Trend wechselte ständig. In einem Jahr wurden halt mal klassische Füllfederhalter (ohne Tinte, weil kindergerecht) und Linienblöcke genutzt und in einem anderen wurden dann schon einmal dünne Filzstifte als Schreibmittel der nächsten Generation angesehen. Der Trend ergab sich meist irgendwie. Jede Generation verwendete einfach unzählige verschiedene Schreibutensilien. Und das war Peer Flints Aufgabenfeld, das ihm in der Tat wenig Befriedigung verschaffte. Eher war es so, dass alle Aspekte seiner Pflichten ihn auslaugten, was sein Unterbewusstsein stets damit kompensierte, dass er niemals ernsthaft über seine Arbeit nachdachte. Und dennoch verpasste er seinen Leidensantritt nie um auch nur eine Minute. Nur heute, am zweiten April, änderte sich dies endlich.
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