Gegen Nachmittag stellte er dann fest, dass er seit seiner letzten Mittagspause nichts gegessen hatte. Er hatte nur getrunken, worauf ihn sein Magen und seine Blase aufmerksam machten. Ein paar Kekse erledigten daraufhin ihre Arbeit und gaben Peer ein wenig Fülle zurück. Tee und Kekse waren in Peers Haushalt der Fraß der Reichen. Kuchen hatte er gerade einfach nicht in greifbarer Nähe.
Gegen fünf rief er im Haus seiner Eltern an.
„Bursche! Musst du nicht arbeiten?“, begrüßte ihn sein Vater.
„Hallo Papa. Wie geht es dir?“, erwiderte Peer.
„Gut wie immer. Weißt ja, wie es hier ist. Aber den Kanteros ist letztens die Töle überfahren worden. Rums! Quietsch! Platt wie ein Omelette. Deine Mutter hat einen kleinen Sarg gebastelt. Für die Kinder. Die haben schon Bolzen in Kuhköpfe gejagt, aber so ein überfahrener Hund war dann zu viel. Haben geheult ohne Ende hier.“
Die Kanteros waren die Nachbarn seiner Eltern. Ihnen gehörten alle Anbauflächen um das Haus herum, so dass seinen Eltern selbst nur ein paar Obstbäume blieben. Allerdings arbeite seine Mutter ohnehin nicht mehr und hatte sich Holzarbeiten zugewandt und sein Vater schuf das Geld als Postbote heran. Vier Tage die Woche sammelte er alles ein, was in den umliegenden Dörfern so anfiel und fuhr es in die kleine Stadt. Von dort aus wurde es dann weiter ausgetragen. Es spielte, wie er Peer mal lang und breit erklärt hatte, auch überhaupt keine Rolle, ob ein Brief von Dorf A nur nach Dorf B musste. Er wurde immer erst zur Stadt gebracht. Von Dorf A nach Dorf B wären es fünf Kilometer gewesen und über die Stadt eben über fünfzig. Das ergab sowohl für ihn als auch für Peer keinen Sinn. Und trotz dessen, dass er darin mit seinem Vater übereinstimmte, hatten sie sich nie getroffen – obwohl Peers Büro kaum dreihundert Meter von der Poststelle, zu der sein Vater häufig reiste, entfernt lag. Wahrscheinlich betrachte Papa Flint seine Reise in die Stadt nur als Umweg von Dorf A nach Dorf B und auf Wegen verabredete man sich einfach nicht. Dafür waren Häuser da, wenn es nach Peers Vater ging und noch besser wäre natürlich ein Wintergarten gewesen.
„Was wünschen sich Mama und du?“, fragte Peer ihn. Zum einen, weil ihn die Kanteros nicht sonderlich interessierten und zum anderen, weil er ohne Umschweife Freude erzeugen wollte.
„Wir haben April. Weihnachten ist noch hin und Geburtstag hat hier auch keiner.“ Peers Vater war Realist.
„Ich meine etwas Materielles, was ihr euch bisher nicht leisten konntet. Irgendetwas Aufwendiges. Denk mal nach, Papa!“
Stumm atmete Papa Flint in den Hörer. Er dachte offensichtlich nach. Die Unfähigkeit, Wünsche akut in Worte zu fassen (oder in Gedanken) hatte Peer von ihm übernommen, oder aber sogar geerbt.
„Wintergarten!“, sagte er dann knapp.
„Dann sollt ihr einen haben. Einen, wie ihr ihn haben wollt. Ich komme morgen oder übermorgen vorbei. Dann schauen wir uns alles an, was man da machen kann.“
„Und deine Arbeit?“, wollte Papa Flint wissen.
„Gekündigt. Ich suche mir was Neues.“
„Ah“, machte Peers Vater. „Und woher hast du so viel Geld? Gespart, oder was?“
„Gespart. Und ein bisschen was gewonnen. Es reicht, bis ich was Neues habe und für einen Wintergarten“, log Peer. Immerhin. Er hatte gerade seinen Vater gut belogen und wurde nicht einmal rot. Wahrscheinlich hatte er noch Alkohol im Blut.
„Also bis dann“, sagte sein Vater. Weder Aufregung noch Skepsis lagen in dessen Stimme, denn er akzeptierte Gesagtes meist einfach als Tatsachen. „Willst noch mit Mama sprechen? Sie ist im Keller und bastelt schon wieder... Ich werde noch verrückt vom ganzen Klebergestank!“
Dann hörte Peer Schritte und wartete. Sein Vater hatte das Telefon einfach abgelegt. Ob er es nur vergessen hatte, oder ob er Peers Mutter ans Telefon holen wollte, blieb abzuwarten. Das waren die Konflikte in der Familie Flint.
Wenig später hörte Peer Mama Flints dünne Fistelstimme.
„Peer!“, schrie sie mit gut fünfundzwanzig Dezibel ins Telefon. „Wie geht es dir? Ich bastle gerade an einem Sarg für den – du hast es schon gehört, oder? Die armen Kinder... War doch nicht fertig. Da müssen kleine Scharniere ran, damit man den auch aufklappen kann. Nicht, dass man das sehen müsste. Aber einfach nur den Deckel auflegen und festnageln – Nein!“
„Schön“, sagte Peer. Ihn erschöpfte es immer, seine Mutter am Telefon zu sprechen. Neben ihrer schwachen Stimme lag das vor allem daran, dass sie diese trotzdem gerne strapazierte. So starb einiges zwischen Mama Flint und ihren Opfern: Stimmbänder, Geduld, Nerven. Nur die Trommelfälle waren nach drei Stunden mit ihr erholt.
Natürlich hatte man es sich in der Familie Flint angewöhnt, nicht ständig nachzufragen, wenn man etwas nicht verstanden hatte. Man riskierte damit ja, dass der gesamte Themenblock noch einmal auf einen einprasselte. Und die wichtigen Informationen waren zumindest Peers Vater zu Genüge bekannt – man hatte das verflixte siebte Jahr schließlich überstanden. Und dann kamen noch weitere dreißig Jahre dazu.
„Und dieser Fahrer, der den Hund, den armen, armen, armen Hund – ach Peer! Wir glauben ja, das war der Mitschelsky von gegenüber. Der hat das Tier doch immer gehasst. Und genau heute war sein Auto blitzblank! Frisch gewaschen, hat er vor ein paar Stunden noch – ich glaube, es war um neun oder zehn – gesagt. Blitzblank frisch gewaschen. Aber die Kinder sind jetzt wichtiger. Ich habe deinen Vater schon gefragt, ob wir mit den Kanteros für einen neuen Hund zusammenlegen sollten. Ich weiß ja nicht, was die verdienen. Dein Vater sagt, die haben selber genug. Aber das muss ja auch wieder so ein edler sein. Was war das gleich für einer?“
„Basenji, glaube ich. Konnte nicht einmal bellen“, übernahm Peer das Gespräch. „Vielleicht sollte man das erst einmal sacken lassen. Erst einmal das Tier unter die Erde bringen, Mama. Dann weiter schauen. Das sind ja noch Kinder. Die vergessen das vielleicht wieder.“
„Vielleicht. Aber vom jüngeren, vom Karl war das doch der beste Freund! Da kam er von der Schule und musste dann das arme Tier von der Straße kratzen. Also, nicht wirklich. Das hat seine Schwester gemacht. Und dein Vater. Die haben den aufgesammelt . Der war regelrecht ausgewalzt worden vom Mitschelsky!“
„Das arme Tier“, pflichtete Peer bei. Kurze Pause; kurzes Gedenken an den Rassehund. Peer hatte ihn nur ein paar mal in der Einfahrt bei Kanteros gesehen.
„Ich will aber etwas anderes von dir“, sagte er dann, als ihm die Pausenlänge dem Hundstod angemessen vorkam. „Ich habe mittlerweile ein wenig Geld. Papa erzählt dir das bestimmt später. Und ich wollte die Tage vorbei kommen. Weil ihr doch immer einen Wintergarten wolltet, gleich am Wohnzimmer.“
„Das wäre toll!“ Der Ausruf ließ sie ein wenig röcheln.
„Ich würde dann morgen oder übermorgen vorbei kommen. Da seid ihr doch beide zuhause, oder?“
„Ja, wo sollten wir denn sonst sein? Aber übermorgen ist besser. Ich muss ja dann was vorbereiten!“
„Also übermorgen. Vor dem Mittagessen. Soll ich etwas mitbringen?“
„Nur gute Laune, Peer. Nur gute Laune.“ Peers Mutter liebte diesen Spruch.
Und so war es dann abgemacht. Peer würde sich in zwei Tagen einen Mietwagen nehmen (zumindest erschien ihm das am Bequemsten) und seinen Eltern zu einem Wintergarten verhelfen. Wenn ihm durch eine dumme Begebenheit etwas zustoßen sollte, wollte er das wenigstens erledigt haben. Es war schließlich vieles passiert. Nachdem Peer mehrfach beteuerte, dass es ihm wirklich gut ging, konnte er sich endlich lösen.
Es war jetzt gerade einmal früher Abend und noch immer wusste er nichts mit sich anzufangen. Zudem hatten die Kekse damit abgeschlossen, ihn zu sättigen.
Читать дальше