1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Den Punkt mit dem Drogen und den gelegentlichen Zweifeln unterschlug sie in ihren Ausführungen zwar, aber an diesem Mann, der heute ihr Gastgeber war, fand sie einfach so gar nichts Hinterlistiges und so ließ sie ihre üblichen Mauern heute flach sein.
Für einen Moment, beim zweiten Glas Wein, spürte sie ein Blitzen in Peers Augen. Sein Blick streifte beiläufig ihre Schultern und ihren Ausschnitt, wanderte dann zurück zur Schulter und über ihren Arm zum Weinglas hin. Dort haftete sein Blick am Rand des Glases, der von Wein und Gesichtspflege benetzt war, wanderte einmal einen kaum sichtbaren Kreis und kam dann stirnrunzelnd auf dem Boden des Weinglases zum Erliegen.
Brokat errötete ein wenig und wunderte sich darüber, denn sie spürte, wie ihr die Wärme in die Wangen stieg. Und prompt fragte ihr Gastgeber sie, ob alles in Ordnung sei, sie sei plötzlich so gefärbt um die Nase herum. Ob es am Wein läge. Ob die Unterhaltung zu weit gegangen sei. Er wisse ja nicht, was der Standard bei einer Frau ihrer Klasse sei.
„Alles in Ordnung“, wiegelte sie schnell ab.
Peer leerte die Weinflasche bis zum letzten Tropfen in ihr Glas. Dabei legte er eine fachmännische Präzision an den Tag, die Brokat mittelmäßig beeindruckte.
„Wollen wir danach ins Schlafzimmer?“, fragte er währenddessen und hatte Selbstvertrauen gefasst.
„Wie du wünschst“, flüsterte Brokat. Sie hatte ihre Professionalität schnell wieder erlangt.
Sie wusste noch nicht genau, welche Hüllen an diesem Abend fallen würden. Und der grauenhafte Rotwein machte ihr auch zu schaffen, denn er reagierte mit den Resten irgendwelcher Substanzen, die sie sich am Vortag eingeworfen hatte.
Kurz darauf hatte der neureiche Mann eine sexuelle Begegnung mit einer Frau, die definitiv nicht zu denen passte, mit denen er sich sonst eingelassen hatte. Und trotz anfänglicher Schwierigkeiten genoss er, wie sich der edle Stoff um seinen Körper schloss.
Unterdessen spielte Melv Svenson ein Computerspiel, in dem es darum ging, einer Psychiatrie zu entfliehen. Es gefiel ihm sehr. Es kam ihm sogar der Gedanke, einen kleinen Dankesbrief nach Hamburg ins Entwicklerstudio zu schicken, doch er verwarf diesen Gedanken. Er war sich nicht einmal sicher, ob Briefe ohne Absender (und anders wäre es ihm kaum gestattet gewesen) überhaupt ankamen. Auch Peer Flints Adresse als Absender zu wählen, kam ihm irgendwie unpassend vor. Abgesehen davon wollte er nicht riskieren, dass Peer eine Antwort von seinen Helden erhielt. Diesbezüglich war Melv ein Egoist, denn es war ja schließlich seine Leidenschaft.
Gleich dann, wenn Melv wieder im Quartier von GAS sein würde, würde er den Bob, der ja für solche Fragen zuständig war, fragen, unter welchen Angaben es ihm denn gestattet sei, Briefe zu schreiben. Aber erst musste er dem Bob ja glaubhaft vermitteln, welcher der Klone er war.
„Kann ja jeder vertauschen“, würde der Bob dann nach einem Betrachten des Namensschildes sagen. Dann würde der hässliche Klotz wieder nach irgendeiner ellenlangen Nummer fragen und Melv damit enorm frustrieren. Melv verwarf also seinen Gedanken ans Briefeschreiben endgültig.
Ebenfalls am selbigen Abend hatte Ruben Svenson den schwarzen Van noch nicht wie versprochen zurück zur organisationseigenen Garage gebracht. Er fuhr stattdessen durch diese Stadt, in der die Lichter größtenteils erloschen waren. Es schienen nicht alle Menschen lebensbejahend und reich die Straßen zu bevölkern, wie Peer Flint es nun – Rubens Ansicht nach – tun sollte.
Der Gedanke betrübte Ruben ein wenig, denn sein Gefühl für Gerechtigkeit war aus irgendeinem Grund ausgeprägter als das seiner Brüder. Auch damals, als sie großgezogen worden waren, war er immer der, der einen Streit am ehesten zu schlichten vermochte. Heute ließ er sich vor allem herumkommandieren, weil ihm das das Denken abnahm. Und auch, wenn er seine Klonbrüder abgöttisch liebte und auch sein Leben für Sunday Chart opfern würde, war es ihm in letzter Zeit öfter so, als fehlte ihm etwas. Bedingt dadurch, dass man auch ihm aller Fähigkeit beraubt hatte, auf Süchte hereinzufallen, war er auch kaum dazu fähig, ein starkes Gefühl des Verliebtseins zu spüren. Man hatte ihm dies allerdings immer verschwiegen, weshalb es ihm nur diffus bewusst wurde. Aber wann immer er einen Menschen kennenlernte, der in ihm etwas auslöste, hielt dieser Dopaminrausch nur wenige Tage lang an und wurde dann eher zu einer minimalen Vernebelung. Gerade eben genug, um es zu spüren, aber kaum genug, um es zu missen – so war Rubens Liebe gelagert.
Irgendwann war es ihm aufgefallen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Nicht nur, dass er sogar ein wenig anders war als seine Brüder – und per Definition waren sie eins – er war auch anders als die Menschen außerhalb des Systems, mit denen er natürlich Kontakt haben musste. Er empfand diesen Umstand als Makel. Umso gewichtiger empfand er ihn, als er sich auch an diesem Abend vor Augen hielt, dass die Reihe Svenson als unglaublich erfolgreiche Reihe galt.
In der Regel lenkte er sich von seinen Sorgen damit ab, sich wichtig zu fühlen oder etwas herzustellen. Wenn er etwas wie das Blasrohr nach einiger Zeit in den Händen hielt und wusste, dass er etwas geschaffen hatte, fühlte er sich gut und vergaß, dass auch er nur ein Werkzeug war. Auch war er ein wandelndes Lexikon, wusste ständig Rat und hatte sachdienliche Ratschläge für Dinge parat, über die andere nicht einmal nachdachten.
Nach einigem ziellosen Gefahre mit dem dicken Wagen fand er sich an einer Tankstelle wieder. Er kaufte sich eine billige Zigarre für knapp über zwei Euro, fuhr bis zum Gewerbegebiet, riss die Zigarre mit den Zähnen auf und paffte sie dann in der Einfahrt des Recyclinghofes der Stadt.
Die nichtssagende Aprilluft umwehte sein sanftes Gesicht. Die Dunkelheit der Stadt kam aus den Straßen gekrochen und wollte nichts von ihm. Keine Ablenkung, keine Arbeit, keine Verpflichtung beutelten ihn noch. Nur ein halber Mensch mit einer ganzen billigen Zigarre stand dort und hielt andächtig seine Gedanken in den Abend. Passanten hätten dieses Bild wahrscheinlich für merkwürdig befunden, aber auch die Passanten fehlten. Es gab nur Ruben und sein Verlangen nach den Dingen, die er nicht einmal benennen konnte. Ein paar Sterne kümmerten sich nicht um ihn und strahlten vor sich hin. Die Wolken schoben sich vor den Mond. Irgendwo zischte es laut aus einem der umliegenden Gebäude. Ein paar Lichter wurden gelöscht.
„Genug!“, schrie Ruben dann in den stillen Tod des ersten Aprils. Seine sanfte Stimme hallte zwischen Mülltonnen wider.
Der Van setzte sich kurz darauf mit Ruben darin in Bewegung, durchbrach die Schranke des Recyclinghofes und donnerte auf die Rampe, von der aus der Müll in die Container glitt. Ruben suchte rein interessehalber nach einem Container für biologischen Abfall, wurde aber nicht fündig. Dann nahm er eine herumliegende Eisenstange und zerlegte damit den Tankdeckel seines Wagens. Es roch ein wenig nach Benzin und Müll. Im Mund hatte er immer noch die billige Zigarre, die kaum gegen den Gestank ankam. Eine Alarmsirene begleitete sein Treiben.
Ein paar Sekunden später lag das Auto seitlich im Holzcontainer. Kraftstoff sickerte auf die Reste und vermischte sich mit Splittern, Lack und den fälschlich weggeworfenen Plastikteilen. In dem zerbeulten Wagen hing, noch immer angeschnallt und ein wenig überrascht von sich selbst, der junge Rotschopf mit den besonderen Augen. Er kramte die Fahrzeugpapiere aus dem Handschuhfach und entzündete sie mit der billigen Zigarre. Den brennenden Klumpen ließ er durch das Fenster unter sich gleiten.
Wenig später erreichte ihn alles verzehrendes Feuer.
Im Molkereipfad 64 wussten die sexuell Vergnügten von all dem nichts. Der Klient war zu seiner Unzufriedenheit sehr schnell zum Höhepunkt gelangt, was Brokat auf dessen Müdigkeit schob. Leicht schwitzend saßen sie dann auf dem Bett und teilten sich ein Glas Wasser.
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