1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Kincaid nickte.
„Sahul ist demnach von Menschen besiedelt gewesen, bevor jene Toorags die Macht übernahmen?“
Kincaid beäugte mich einen Moment argwöhnisch, bevor er beschloss, mir endgültig den Status eines Vollidioten einzuräumen. „Sahul, oder ‚Selao‘, wie ihn die Toorags nennen, war einst das Zentrum der menschlichen Zivilisation, wenn du diesen Begriff gestattest. Menschen haben mit Zivilisation ja nur noch wenig zu schaffen. Jedenfalls seit sie beschlossen hatten, Eroberer zu spielen. Nun ja, sieh‘ selbst wohin dies geführt hat. Wir haben alles verloren, die Toorags alles gewonnen.“
„Die Menschen haben alles verloren? Wie darf ich das verstehen?“
„Genauso, wie ich es sagte. Die Toorags sind die Herren, wir der Abschaum, den sie nach Belieben treten. Und nicht unverdient. Immerhin haben wir alles getan, damit sie uns bis in alle Ewigkeit hassen.“
„Was ist mit Vestan? Vestan muss auch einmal von Menschen besiedelt gewesen sein. Sitzen dort auch diese Toorags?“
„Sie sitzen überall. Hier, auf Vestan, auf Orwin, Kalaipa, auf Siankai und so weiter. Sie sind überall.“
„Seit neuestem sind sie offensichtlich auch auf Gondwana. Sonst wäre ich nicht hier.“
„Gondwana im Pagodennebel?“ Kincaid lachte, nicht unsympathisch wie ich fand.
„Ja, genau. Du glaubst mir nicht, oder?“
Kincaid grinste und zog die Schultern hoch. „Was für einen Unterschied macht es, ob ich dir glaube oder nicht? Wir sitzen im selben Boot, egal ob du von Gondwana oder aus Wolkenkuckucksheim kommst. Du siehst jedenfalls fremdartig genug aus, um von deinem Gondwana zu stammen. Wie viele von euch gab es denn noch, bevor die Toorags eingefallen sind?“
Ich sah keinen Grund, ihm etwas zu verheimlichen. „Nur noch zwei.“
„Zwei? Woher weißt du das so genau? Bist du so eine Art beschissener Hellseher?“
„Ich weiß es. Es gibt nur noch einen einzigen weiteren Menschen auf Gondwana. Falls die Toorags sie dort gelassen haben. Meine Schwester.“
„Du hast eine Schwester?“ Kincaids Augen fielen fast aus den Höhlen. „Dann hoffe ich für dich, die Toorags haben sie nicht auch in ihre schmierigen Finger bekommen.“
„Wie meinst du das?“ Die Angst um Ylvie erhielt neue Nahrung.
„Frauen sind mehr als nur Mangelware. Nicht nur hier, soviel ich weiß. Deswegen solltest du meinen Rat befolgen und dich entsprechend bedecken. Deine Muskeln schützen dich vielleicht vor weiteren Überfällen, aber sie sind auch gleichzeitig dein Schwachpunkt. Sie derart zur Schau zu stellen, ist mehr als leichtsinnig. Das wäre genauso, als würde eine Frau mit nackten Brüsten hier umherziehen. Die käme nicht weit. Okay, ich gebe zu, sie käme auch hochgeschlossen gekleidet nicht sehr weit.“
Mir dämmerte etwas. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht einschätzen, wie ich auf andere Menschen wirkte. Kein Wunder, ich hatte Jahrzehnte ohne Meinesgleichen verbracht. Es gab also Menschen, die mich aufgrund meiner äußerlichen Erscheinung in ihre Gewalt bringen wollten – aber um was mit mir zu tun? Ich begriff es nicht. Sexuelles Handeln war noch ein Fremdwort für mich, meine sexuelle Identität komplett unterentwickelt. Heute schreibe ich meinen damaligen Zustand dem Sentry zu. Wozu hätte ich auf einem entvölkerten Planeten wie Gondwana Sexualität entwickeln sollen? Es war mir ohne sie besser ergangen. Doch jetzt befand ich mich in einer Welt voller Menschen. Die Voraussetzungen hatten sich ganz und gar verändert. Und mit ihnen veränderte ich mich. Bald sollte auch mein Verlangen erwachen – und den weiteren Verlauf meines Lebens entscheidend beeinflussen.
„Warum gibt es hier keine Frauen?“ fragte ich so harmlos wie möglich.
„Die Toorags haben kein Interesse am Fortbestand der menschlichen Rasse. Auf Sahul gibt es meines Wissens nur wenige Frauen. Man vermutet, sie haben die meisten nach Rantao gebracht.“
„Rantao? Wo ist das denn?“
Kincaid lachte laut auf. „Okay, jetzt glaube ich dir. Du bist wirklich der dümmste Mensch, der mir je untergekommen ist. Das kann keiner vortäuschen und ich würde es nicht merken. Du siehst nicht nur wie ein bescheuerter Außerirdischer aus, du…“
„Nun mal langsam!“ unterbrach ich ihn. „Kein Grund, beleidigend zu werden! Dein Zwergenwuchs allein ist kein Anlass, dir nicht eine zu scheuern.“
Einen Moment lang sah es so aus, als kippte Kincaids Stimmung. Auch wenn meine Bemerkung eher scherzhafter Natur war, sie schien ihm nicht zu schmecken. Lag es daran, dass ich in seiner Schuld stand? Ließ ich es an Respekt mangeln? Doch entspannte er sich schnell wieder, nicht jedoch ohne eine weitere Warnung auszusprechen.
„Dein loses Mundwerk wirst du hier schnell gestopft bekommen, kannst es wohl kaum erwarten, wie?“
„Beruhig dich einfach wieder“, schlug ich augenzwinkernd vor. „Erzähl mir mehr von hier, von Sahul. Wer sind diese Buangan, von denen du sprachst?“
Kincaid betrachtete mich abschätzend. Meine freundlichen Gesten ließen ihn kalt. „Glaubst du, ich bin von der Heilsarmee?“
„Hey, du wirst doch einen bescheuerten Außerirdischen nicht unwissend sterben lassen wollen? Ich bin erst wenige Stunden hier und kann einen Freund gebrauchen.“
„Wie kommst du darauf, du seist ein Freund von mir? Nur weil ich soeben deinen Arsch gerettet habe?“
„Ein wenig schon. Oder rettest du einfach so jedermanns Arsch?“ Ich grinste ihn an. Er war der erste Mensch seit Jahrzehnten, mit dem ich ein vernünftiges Gespräch führte. Ich konnte es immer noch nicht glauben! Es war wie ein Wunder, auch wenn die Umstände unseres Zusammentreffens wenig erfreulich waren.
Kincaids aggressive Fassade bröckelte, wie ich freudig zur Kenntnis nahm. „Was willst du wissen?“ Er wusste, wie sträflich unwissend ich war, welche Informationen ich benötigte, um auf Sahul nicht sofort „unter die Räder zu kommen“, wie er es genannt hatte.
Ich zuckte hilflos mit den Achseln. „Alles. Ich weiß nichts von hier. Bis eben wusste ich nicht einmal, auf welchem Planeten ich verfrachtet worden bin.“
„Ist mir noch gar nicht aufgefallen“, spottete Kincaid, doch lag keine Ablehnung mehr in seiner Stimme. „Himmel, auf was habe ich mich da nur eingelassen? Warum musste ich mich einmischen? Womöglich wäre dir die harte Schule besser bekommen.“ Mein verständnisloser Blick gab ihm den Rest. Noch einen Moment haderte er mit sich selbst, dann fasste er einen Entschluss. „Okay, du stupider Exot, jetzt pass mal auf: Wenn du mir gleichgültig wärst, würde ich dich eiskalt stehenlassen, ja, eiskalt hörst du, und keine weitere Sekunde mehr an dich denken. Aber irgendwie – und frag mich bloß nicht warum – bist du mir eben nicht völlig gleichgültig. Ich muss verrückt sein. Komplett derangiert.“
Nachdenklich geworden kratzte er sich am Hinterkopf und betrachtete mich kopfschüttelnd. Noch einmal zögerte er, biss sich wie abwesend auf die Unterlippe und setzte dann einen Gesichtsausdruck auf, der wohl Entschlossenheit demonstrieren sollte.
„Komm mit! In ein paar Stunden wird es dunkel sein. Hier sind weder du noch ich sicher.“ Er wandte sich ohne ein weiteres Wort um und marschierte eiligen Schrittes vondannen.
Noch war ich nicht überzeugt davon, ihm folgen zu wollen. „Wohin gehst du?“ rief ich ihm hinterher, ohne mich von der Stelle zu rühren.
„Nach Stohal. Komm jetzt, du Sohn eines schwachsinnigen Esels, bevor ich es mir überlege, oder willst du die Nacht allein hier draußen verbringen? Nun ja, allein wirst du nicht lange bleiben, es laufen genug Schacherer herum, die nur darauf warten, einen grünen Bengel wie dich zu Geld zu machen. Willst du das? Willst du herausfinden, was es bedeutet, in ihre Hände zu fallen? Wenn du Glück hast, verscheuern sie dich, ohne vorher eine Kostprobe von dir zu nehmen. Kann ich mir aber nicht vorstellen. Du bist einfach zu sehr die Idealvorstellung von Frischfleisch. Und wie sehr sie es genießen werden, dir weh zu tun. Sie werden geradezu danach lechzen.“
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