1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Ein Schauer lief meinen Rücken hinunter. Kannibalismus, schoss es mir durch den Kopf. Das ist es also, um was es ging. Automatisch setzte ich mich in Bewegung, zumal ich mir nun in den schlimmsten Farben ausmalte, was mich erwartete, fiele ich tatsächlich in „deren“ Hände. Noch immer hatte ich keinen Schimmer davon, was Kincaid wirklich meinte. Ich war grüner als der grünste Bengel, dem er je begegnet war.
4
Stohal
Stohal war die dreckigste, heruntergekommenste Siedlung, die ich je betreten sollte. Zu dieser Zeit verfügte ich über wenig Ahnung, wie andere Orte auf Sahul aussahen und sah mich zunächst außerstande, eine Wertung abzugeben. Umso vernichtender fällt mein Urteil im Rückblick aus. Einige Dutzend aus Brettern und Wellblech zusammengezimmerte Verschläge, die sie hier Hütten nannten, bildeten den Kern der sogenannten Siedlung. Sie standen Wand an Wand, eines am anderen, als wären sie alle aneinander genagelt. Bevor wir die Siedlung auch nur annähernd erreichten, fiel mir etwas anderes auf: beißender, schier unerträglicher Geruch, der von den Buden herüber wehte. Der Gestank menschlicher Ausscheidungen, ein Mief, der mich verfolgte, seit ich Sahul so unfreiwillig betreten hatte.
„Willkommen in Stohal“, sagte Kincaid trocken, als er mein grimmiges Gesicht sah. „Es riecht nicht wie April in Paris, aber das ist nicht wichtig.“
Paris? Der Name eines weiteren, mir unbekannten Planeten, wie ich vermutete. Es musste geradezu von ihnen wimmeln!
„Wichtiger ist der Zusammenhalt, den du hier findest“, fuhr Kincaid unbeeindruckt meines angewiderten Gesichtsausdrucks fort. „Wir sind hier knapp eintausend Menschen, Männer, um genau zu sein. Frauen gibt es nicht. Und wenn es eine gäbe… nun ja, es gäbe sie wohl nicht lange. Wie dem auch sei, wir überleben, weil wir zusammenhalten. Auf Buangan gibt es viele solcher Siedlungen wie die unsere.“
„Sehen die anderen auch so übel aus?“ Ich konnte meinen Missmut nicht unterdrücken.
„Ja, ähnlich“, räumte Kincaid ein. „Kein Vergleich zu früher, als diese verfluchte Insel noch Xamana hieß und Teil der Republik Stromstad war. Das ist ein paar Jahrzehnte her. Als die Toorags durch waren, stand kein Stein mehr auf dem anderen. Jetzt benutzen sie unsere Insel als Abladeplatz für Neuankömmlinge wie zum Beispiel dich. Was immer sie draußen in den Weiten des Alls an menschlichem Müll aufgabeln, schließlich und endlich landet er hier auf unserer Insel.“
Interessant. In einem Satz schimpfte er Buangan eine verfluchte Insel und dann gleich danach nannte er sie beinahe liebevoll „unsere“ Insel. Der Widerspruch darin machte deutlich, wie wenig ich noch von Buangan und seinen Bewohnern wusste.
„Und wieso ausgerechnet hier? Gibt es…“ Ich sah mich gezwungen, mitten im Satz abzubrechen und mir die Nase zuzuhalten. Wir standen an einem schmalen Kanal, vielleicht einen halben Meter breit, der direkt aus der Siedlung zu kommen schien. Ich musste nicht hineinblicken, um zu wissen, was ich vor mir hatte. Es stank bestialisch.
„Daran gewöhnst du dich schnell.“ Kincaid klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. „Sei froh, dass wir so etwas haben. In andern Dörfern gibt es keine Latrinen, was denkst du, wie es da aussieht? Es wird gleich besser werden, wir haben vorherrschend Nordwinde, der Wind bläst den Duft von Stohal fort.“
Und so war es auch. Nachdem wir den Kanal überquert hatten, roch es wieder erträglich. Die zwei schwarzen Tierkadaver, die wir passierten, von denen einer bereits mumifiziert aussah, schienen geruchsbedingt das Latrinenstadium bereits weit hinter sich zu haben.
„Was für Tiere waren das?“ fragte ich auf das Aas deutend.
„Ziegen“, antwortete Kincaid.
„Noch nie gehört. Sind die essbar?“
„Klar. Von welchen Viechern habt ihr euch denn auf eurem Gondwana ernährt?“
„Na, von Golbats, Skirrets, Kaptagavas oder auch gelegentlich mal einem Moa. Die waren jedoch sehr selten und immer wenn ich mal einen erlegt hatte, überkam mich das Gefühl, den letzten seiner Art zu Fall gebracht zu haben.“ Der Gedanke an Zuhause schmerzte. Wie sehr ich mir wünschte, wieder auf Evu zu sein, meiner Insel, die immer weniger Gemeinsamkeiten mit Buangan aufwies. Heimweh erwachte. Dabei befand ich mich erst seit ein paar lächerlichen Stunden auf Sahul.
„Fabelwesen“, murmelte Kincaid verächtlich. „Hier haben wir nur Ziegen und Schweine. Ein paar Kühe auch, aber die werden immer weniger, verenden an merkwürdigen Krankheiten. Wir wagen es schon gar nicht mehr, ihre Milch zu trinken. Bald wird es keine mehr geben.“
Wir näherten uns den ersten Verschlägen, aus denen hier und da Augen zwischen notdürftig vernagelten Brettern hervor lugten. Vorsichtig, beinahe ängstlich, blickten mir die ersten Bewohner Stohals entgegen. Zu Gesicht bekam ich sie jedoch nicht, sie hielten sich zurück. Schreckte sie meine Größe oder verhielten sie sich stets so bedächtig? Kincaid bemerkte meinen angespannten Blick und lächelte beruhigend.
„Keine Angst, das sind auch Neuankömmlinge wie du, die fürs Erste Unterschlupf suchen. Wer neu ist, findet, wenn überhaupt, nur an den Rändern der Siedlung Platz. Hier ist naturgemäß die Gefahr am größten, wenn Jäger oder Schacherer mal wieder die Gegend unsicher machen. Dann sind die Außenposten die ersten, die mit ihnen in Kontakt kommen. Da kann es schon mal Tote geben. Aber Stohal ist zu klein, um wirklich interessant zu sein. Da gibt es lohnendere Ziele. Neuankömmlinge genießen wenige Rechte und haben auch keinen Zugang zum Zentrum der Siedlung.“
Ich ging nicht weiter darauf ein, warum hier hin und wieder jene Jäger einfielen. Wahrscheinlich waren sie auch hinter den Körpern anderer Menschen her, so wie diejenigen, die mich vor kurzem angegriffen hatten. Mir lag eine andere Frage auf der Zunge.
„Wenn Neuankömmlinge keinen Zugang zum Zentrum haben, wieso dann ich?“ Zweifellos befanden wir uns auf dem Weg dorthin. Ein gut und gern zwei Körperlängen hoher Zaun aus unzähligen zusammengenagelten Brettern oder Teilen davon versperrte schließlich den Weiterweg. Er zog sich wie ein schützender Ring um das komplette Innere Stohals, wie ich noch erfahren sollte. Nur an wenigen Stellen gab es Durchlässe, die den Weiterweg in den Siedlungskern ermöglichten. Dort hielten verbissen dreinblickende junge Männer Wache. Zwei davon traten uns entgegen. Sie konnten nicht älter als zwanzig sein. In den Händen hielten sie hölzerne Speere. Lächerliche Waffen, wie ich fand. Als sie mich sahen, fielen ihnen beinahe die Augen aus dem Kopf.
„Weil du in meiner Begleitung bist, als mein Gast. Das geht für eine gewisse Zeit in Ordnung“, gab Kincaid knapp zur Antwort. Wir passierten die beiden Wachen. Sie machten keine Anstalten, mich zu attackieren, wirkten aber, als würden sie keine Sekunde zögern, sollte ich ihnen Anlass dazu geben. Was sie getan hätten, wäre Kincaid nicht an meiner Seite gewesen, konnte ich mir lebhaft vorstellen.
„Du kommst hier rein, weil ich für dich bürge“, sagte Kincaid mit nur leicht kaschiertem Stolz in der Stimme. Er wog etwas in dieser Gemeinschaft, so viel stand fest. Ich stand unter seinem Schutz, auch wenn es mir unangenehm war. Doch beschloss ich, diesen glücklichen Umstand zunächst widerspruchslos hinzunehmen. Kurz darauf war ich mir ob dieses Umstands nicht mehr ganz so sicher.
Die Begegnungen mit anderen Bewohnern des Zentrums nahmen nun zu. Sie sahen alle mehr oder weniger verwahrlost aus, armselig, schmutzig, viele nur in Lumpen gehüllt. Ich trug auch nicht viel mehr am Körper als sie, doch stach ich heraus wie der sprichwörtliche Schwan unter Enten. Ausnahmslos alle gafften mich an, als könnten sie nicht glauben, was sie sahen. Wie musste ich auf sie wirken? Bedrohlich? Ich überragte alle bei weitem, kam mir vor wie ein Riese unter Zwergen. Doch es war nicht nur das. Im Gegensatz zu ihnen sah ich gesund und kräftig aus, lebendig und voller Energie. Zu meinem Entsetzen begegneten mir welche mit Beinen so dick wie ihre Körper. Sie konnten kaum laufen und stützten sich gegenseitig. In ihren aschfahlen Gesichtern hatten sie dunkle, bösartig aussehende Flecken. Sie wirkten nicht nur todkrank, sie mussten es auch sein. Kincaid schien in meinen Gedanken wie in einem offenen Buch zu lesen.
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