Eigentlich nicht, doch wollte ich ihn nicht verärgern und nickte stattdessen eifrig.
„Ein Buangan kann in seiner eigenen Heimat eigentlich nichts werden, er muss sein Glück auf dem Festland versuchen. Viele Buangan zieht es nach Nordland oder ins Antarische Reich, wo sie sich ein menschenwürdigeres Leben versprechen. Bin mal gespannt, wohin du aufbrechen wirst.“
„Vielleicht bleibe ich“, warf ich unbestimmt dazwischen.
„Das glaube ich nicht. Ich gedenke auch nicht, für alle Zeiten hier zu bleiben. Wie dem auch sei, das ist eine andere Geschichte. Nach dem letzten Krieg, den die Menschen gegeneinander führten, lösten sich alle sieben oder vielmehr sechs Staaten auf und bildeten eine Einheit. Wohlgemerkt, eine staatliche Einheit, keine soziale. Die Unterschiede blieben weitgehend gewahrt, auch wenn alle Menschen plötzlich vor dem Gesetz einander gleichgestellt waren. Von dieser neuen Situation profitierten die wenigsten, sie kam vor allem den oberen Zehntausend zugute. Doch mit der Einheit zog neue Gefahr auf, eine, die die wenigsten auf der Rechnung hatten.“ Er sah mich einen Moment an. „Kannst du mir bis hierher folgen?“
Ich nickte. „Von welcher Gefahr sprichst du?“
„Was passiert deiner Meinung nach, wenn du keinen Gegner mehr hast, wenn plötzlich um dich herum alles friedlich ist, du nicht mehr fürchten musst, in den Krieg geschickt zu werden?“
Einigermaßen ratlos sah ich ihn an. „Klingt für mich wie ein Ideal-zustand.“
Kincaid lachte spöttisch. „Du kennst die Menschen schlecht. Nein, das ist kein Idealzustand. Im Gegenteil. Der Mensch braucht ein Feindbild, etwas, wovor er sich fürchtet. Nimm ihm die Angst und du nimmst ihm den Sinn.“
Die Skepsis in meinem Blick entschuldigte er mit der Tatsache, einen Eremiten vor sich zu haben. „Du kommst aus einer Welt, in der es nicht gerade viele Menschen gab, richtig? Du kannst nicht verstehen, wie solltest du.“
Er mochte damit recht haben, ohne Frage. Allerdings war ich nicht ganz so dumm wie er annahm. Das Tagebuch meines Vaters hatte mir eine Welt vor Augen geführt, welche komplett anders geartet war als die, in der ich aufwuchs. Eine Welt, die so gewesen sein muss, wie Kincaid sie gerade beschrieb. Eine Welt, die vor meiner Geburt untergegangen war und zu der ich auch niemals irgendeinen Kontakt wünschte. Ironischerweise schien ich mich nun in einer solchen zu befinden.
Die wenigen Menschen auf Evu, der kleinen Insel am Südwestrand des Großkontinents Gondwanaland, waren meine Welt gewesen. Dort war ich aufgewachsen. Dort hatte ich zusammen mit meiner Schwester Ylvie eine behütete Kindheit verbracht. Viele Menschen gab es nicht. Ich fragte mich immer, warum. Eine Antwort vermutete ich in Gondwanaland, dem verbotenen Kontinent. Nach Mutters Tod fühlte ich mich nicht länger an das Versprechen gebunden, welches sie mir früh abgerungen hatte, jenes Gelöbnis, Gondwanaland niemals zu betreten. Schon kurz nach ihrem Ableben traf ich den folgenreichen Entschluss, die Tethys zu überwinden, jenes tiefblaue Meer, welches sie uns fürchten lehrte und das ich doch immer geliebt hatte. Zu keiner Zeit hatte ich Angst vor ihr verspürt, ein Erbe meines Vaters, wie ich herausfinden sollte. Heute kenne ich die ganze Wahrheit und weiß, warum die Menschen um mich herum so früh starben und am Ende nur Ylvie und ich übrig waren.
„Doch, ich kann dich verstehen. Zwar kenne ich außer Sahul keine Welt, in der viele Menschen leben. Aber Gondwana war einst auch von Menschen besiedelt. Auch dort gab es Kriege, so wie es sie hier gegeben hat.“ Zumindest wusste ich von einem Krieg. Immerhin.
„Und wieder gibt“, fügte Kincaid trocken hinzu. „Die Menschen Sahuls waren auf wirklich gutem Weg. Doch wie ich bereits sagte, Menschen brauchen Feinde, um glücklich zu sein. Und ein neuer Feind fand sich. Nicht hier. Woanders. Auf einem anderen Planeten.“
„Die Toorags?“ mutmaßte ich sachlich.
„Genau die. Nachdem auf Sahul 192 Jahre Frieden geherrscht hatte, dürsteten die Machthaber regelrecht nach Krieg. Endlich bekamen sie ihn. Auf Rantao war es zu einem Zwischenfall gekommen, eine Handvoll Siedler, Menschen wie du und ich, waren von Toorags grauenvoll verstümmelt worden. Auf Rantao, dem Heimatplaneten der Toorags! Die Signalwirkung war verheerend. Von heute auf morgen mutierten sie zu Monstern, widerlichen Tieren, Bestien. Aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbar, dass sie uns einst erlaubt haben, in ihren Reihen zu siedeln.“
„Ach, war das so?“
„Genauso. Menschen und Toorags sind einander schon vor Jahrhunderten begegnet. Bereits auf Vestan gab es offizielle Kontakte. Unglaublich, nicht wahr? Die Menschen waren damals untereinander derartig verfeindet, sie versuchten sogar, die Toorags auf ihre jeweilige Seite zu ziehen.“
„Und? Waren sie damit erfolgreich?“
„Nicht im geringsten. Die Krötenfressen sind viel zu scharfsinnig, um sich auf so etwas einzulassen. Sie zogen sogar ihre Vertretungen ab, um nicht in den Konflikt hineingezogen zu werden.“
„Intelligent sind sie jedenfalls“, kommentierte ich knapp.
„Keiner behauptet, sie wären es nicht. Damals waren sie Freunde, keine Frage. Und sie wären es heute noch. Nur der Dummheit der Menschen ist es zuzuschreiben, dass sie jetzt unsere Todfeinde sind.“
„Wie konnte es so weit kommen?“
„Das kann ich dir in wenigen Sätzen sagen. Die Kriegslust, der Eroberungsdrang der Menschen, ist schuld daran, nenne es wie du willst. Rantao geriet ins Visier der Falken, so nannte man die Kriegstreiber in den Reihen der Weltregierung.“ Das letzte Wort spie Kincaid verächtlich aus. „So wie es auf Rantao Siedlungen der Menschen gab, existierten auch hier welche der Toorags. Nur deutlich weniger. Wie auch immer, als die Nachricht über das Blutbad auf Rantao hier eintraf, schlug sie ein wie ein Meteor. Die Menschen beklagten dreiundzwanzig Tote. Ihre Antwort darauf war verheerend. In nur einer Woche wurden alle Siedlungen der Toorags auf Sahul dem Erdboden gleichgemacht. Für jeden getöteten Menschen auf Rantao wurden hundert Toorags abgeschlachtet.“
„Was hat das alles mit der Kriegslust der Menschen zu tun?“ fragte ich in meiner damaligen Unschuld. „Wenn es stimmt, was du sagst, fingen die Toorags den Konflikt an, oder nicht?“
„Ja, so sah es damals aus, als ganz Sahul nach Vergeltung schrie. Die Falken reagierten auch verdächtig schnell. Sie sandten die Kriegsflotte aus, um unsere Siedlungen auf Rantao zu schützen.“
„Nachvollziehbar.“ Ich stand voll und ganz auf der Seite der Menschen. So wie ich die Toorags erlebt hatte, konnten sie von mir kein Mitleid erwarten.
„Ja, nicht wahr?“ Kincaid lächelte höhnisch. „So dachte man damals auf Sahul auch. Nur wusste man damals noch nicht, dass die Falken kaltblütig alle Menschen auf Rantao über die Klinge springen ließen. Sie waren lediglich Mittel zum Zweck, lieferten nur die Legitimation für den Angriff auf Rantao.“
„Willst du damit sagen…?“
„Ja, genau das will ich sagen. Das Blutbad auf Rantao war von Menschen verübt und den Toorags in die Schuhe geschoben worden. Du kannst dir sicher vorstellen, was mit unseren Siedlungen auf Rantao geschehen ist.“
Ich nickte langsam.
„Dabei muss ich fairerweise anmerken, die Toorags hatten anfangs noch versucht, die Katastrophe zu verhindern und den Vorfall aufzuklären. Allerdings fanden sie die Wahrheit schnell heraus, und als dann auch noch die erste und zweite taktische Raumflotte vor ihrer Haustür auftauchte und der Beschuss begann, war Schluss mit ihrer bis dahin scheinbar grenzenlosen Gutmütigkeit.“
Langsam aber sicher sah ich mich gezwungen, das Bild meiner Entführer aus anderem Blickwinkel zu betrachten. Wenn Kincaid die Wahrheit sprach – und ich zweifelte nicht daran – waren es die Menschen gewesen, welche die Toorags zu Monstern hatten mutieren lassen und nicht umgekehrt.
Читать дальше