Ich nickte. Bleiben zu dürfen, wenn auch nur für eine Nacht, war mehr als ich erwartete. „Ich danke dir, Kincaid. Sieh es wie du willst, aber ich betrachte dich als Freund. Und ich stehe in der Tat in deiner Schuld. Vielleicht kann ich es eines Tages wiedergutmachen.“
Er lachte zum wiederholten Male sein trockenes Lachen, welches mir mehr und mehr gefiel. „Der Dank eines Buangan ist leider wenig wert. Aber er ist besser als nichts.“
Dann schwiegen wir uns eine Zeitlang an. Da ich keine Fragen mehr stellen wollte, wusste ich auch nichts zu sagen. Aus diesem Grund erhob ich mich schließlich und deutete nach draußen. „Ich glaube, ich brauche ein wenig frische Luft. Den Kopf freikriegen.“
Kincaid nickte kurz. „Klar. Geh aber nicht raus aus dem Kral. Sie lassen dich dann womöglich nicht mehr rein.“
„Verstanden.“ Ich schob das Tierfell ein Stück zur Seite und zwängte mich hinaus. Es war inzwischen dunkel geworden. Flackernder Lichtschein lag über Stohal, Licht, welches von den vielen Lagerfeuern herrührte, die die Menschen entzündet hatten. Der Geruch von gebratenem Fleisch zog an mir vorüber, doch verspürte ich keinen Appetit mehr. Gedämpfte Stimmen hier und da. Mein Blick fand den Sternenhimmel und blieb einen Moment dort haften. Flackernde Lichtpunkte überall. Am östlichen Horizont zog die helle Scheibe eines Mondes auf, dessen Namen ich nicht kannte. Wie wenig ich über diese Welt wusste, auf der ich mich seit einem Tag befand und von der ich bis vor kurzem nicht einmal wusste, dass es sie überhaupt gab!
Meine Gedanken wanderten nach Gondwana, zu Ylvie. Wie mochte es ihr ergangen sein? Befand sie sich noch auf Evu oder auch irgendwo hier? Weder noch, wenn ich Kincaids Geschichte Glauben schenkte. Aber sicher sein durfte ich mir nicht. Sie konnte durchaus hier sein, es musste auf Sahul einfach Frauen geben, wenn auch wohl nur wenige. Durchaus möglich, dass sich Ylvie unter ihnen befand. Ich musste sie finden oder wenigstens Klarheit darüber bekommen, wo sie sich aufhielt. Hoffentlich noch auf Evu… doch meine Zweifel saßen tief. Einiges sprach dafür, dass sie sich auf Rantao befand, auf dem Eisplaneten, der Heimat der Toorags.
Tief in Gedanken zog ich ziellos weiter, schlich mich mehr oder weniger heimlich am Zaun entlang, der das Innere der Siedlung umgab. Hin und wieder spürte ich die Blicke aus den Hütten, welche mir nachstellten. Zunächst schenkte ich ihnen wenig Beachtung, versuchte sie zu ignorieren. Klar, als Fremder, noch dazu mit meiner ungewöhnlichen Körpergröße, musste ich die Aufmerksamkeit magisch anziehen. Wandte ich mich um, machte ich hier und da huschende Schatten aus, die sich in die Schwärze ihrer Behausungen zurückzogen. Der Gedanke, verfolgt zu werden, aus welchen Gründen auch immer, wurde mir mehr und mehr unangenehm. Es war wohl an der Zeit, zu Kaincaids Hütte zurückzukehren und wenigstens etwas Schlaf zu finden. Morgen musste ich selbst sehen, wie und wo es weiterging. In diesem Rattenloch zu bleiben, behagte mir jedenfalls nicht. Mein Gefühl signalisierte, schleunigst von dieser Insel verschwinden zu wollen.
So sollte es auch kommen.
Allerdings ein wenig anders, als ich es mir gerade vorstellte.
6
Vardo
Kurz vor Sonnenaufgang rissen mich gellende Schreie aus ohnehin seichtem Schlaf. Zunächst klangen sie weit entfernt, brandeten jedoch wie eine Welle heran und schwappten schließlich über die Hütte hinweg. Von allen Seiten wurde das Geschrei schrill erwidert. Eine Gänsehaut lief mir über den gesamten Körper. Ich hörte Kincaid fluchen und auch schon nach draußen stürzen. Mit wild klopfendem Herzen folgte ich ihm.
Was ging vor sich?
Zu sehen gab es in den ersten Momenten wenig, es war noch nicht hell genug. Im tiefblauen Zwielicht flackerten hier und da noch weit heruntergebrannte Lagerfeuer, zwischen denen aufgeregte Menschen im Halbschlaf wie orientierungslos hin und her eilten. Schnell gingen jedoch überall weitere Lichter an. Der südliche Teil der Siedlung leuchtete in rötlichem Schein, als brannte dort alles lichterloh. Kincaid stürmte in die Hütte, kehrte mit einer Armvoll Fackeln zurück und warf sie mir vor die Füße.
„Mach sie an!“ rief er und verschwand erneut im Innern. Unser Lagerfeuer war bereits erloschen, also rannte ich zur Nachbarhütte, wo noch Feuer brannte. Drei halbnackte junge Männer hatten sich dort versammelt und entzündeten sichtlich verstört ebenfalls Fackeln. Als sie mich heraneilen sahen, schrie einer entsetzt auf, woraufhin alle drei Hals über Kopf flohen. Ich kümmerte mich nicht um sie, erfüllte Kincaids Anordnung und kehrte mit zwei lodernden Fackeln zurück. Ich staunte nicht schlecht, als ich seiner Rechten ein massives Stahlschwert blitzen sah, dessen Klinge im frühmorgendlichen Dämmerlicht gefährlich violett schimmerte.
„Was geht hier vor?“ fragte ich und warf ihm eine Fackel zu, die er mit der Linken auffing.
„Sklavenjäger!“ kam die grimmige Antwort. „Sie versuchen es mal wieder!“
„Versuchen was?“ wollte ich wissen.
„Sklaven zu rekrutieren“, erklärte Kincaid aufgebracht. „Wir müssen den Zaun verteidigen. Komm mit!“
Wir nahmen in Begleitung anderer bewaffneter Männer, die aus allen Richtungen herbeiströmten, Kurs Zaun. Je weiter wir vorankamen, desto heilloser wurde das Durcheinander. Verwundete stürzten uns klagend entgegen, manche mit garstigen Verletzungen am gesamten Körper oder fehlenden Gliedmaßen, andere mit aus den Augenhöhlen ragenden Pfeilen. Erst jetzt wurde mir bewusst, waffenlos zu sein. Lediglich meine Fäuste standen zur Verfügung. Gemessen an den Wunden, welche so manchem armen Hund geschlagen worden waren, keine schlagkräftigen Vertei-digungswaffen. Mein Selbsterhaltungstrieb bedeutete mir, genau die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, doch hielt ich mich nahe bei Kincaid. Ich schuldete ihm was. Vielleicht ließ sich diese Schuld jetzt begleichen.
Es war das erste Mal, dass ich Pferde sah. Zwar wusste ich von ihnen aus Vaters Tagebuch, doch war mir nicht klar gewesen, wie groß sie waren. Ich war beileibe kein Winzling, hatte zuhause auf Gondwana noch jeden Moa überragt, und traf hier auf Sahul auf ein Landlebewesen, dessen Ausmaße mich regelrecht einschüchtern. Zweieinhalb Meter Schulterhöhe, so mutmaßte ich. Massige Leiber, die nicht so aussahen, als wären sie auf Schnelligkeit ausgelegt, bewegten sich dennoch in atemberaubendem Tempo. Viel Zeit für Ehrfurcht blieb nicht, denn eine ganze Herde von ihnen stürmte durch den an vielen Stellen umgerissenen Zaun, der das Innere Stohals schützen sollte. Die Tiere selbst lösten eher Respekt als Furcht aus. Die auf ihnen reitenden, schwarz gekleideten und schwer bewaffneten Männer jedoch beunruhigten mich zutiefst. Schon rasten die ersten Pfeile auf uns zu, abgefeuert aus komfortabler Höhe.
„Deckung!“ rief Kincaid und warf sich der Länge nach hin. Ich tat es ihm gleich. Links und rechts von uns ging ein Pfeilregen nieder. Schmerzensschreie von allen Seiten. Immer mehr berittene Pferde drängten mit schwingenden Schwertern durch die Bresche. Ich schätzte ihre Anzahl auf drei Dutzend. Der Widerstand, auf den sie trafen, war zwar energisch, doch die haushohe Überlegenheit der Angreifer ließ ihn schnell armselig aussehen. Hier gab es nichts mehr zu holen, der Feind, wer immer er war, befand sich bereits im Zentrum der Siedlung. Was gab es noch zu verteidigen, als das nackte Leben?
„Es sind wahnsinnig viele, noch dazu bis an die Zähne bewaffnet“, rief mir Kincaid schwer atmend zu. „Einen Überfall dieses Ausmaßes habe ich noch nie erlebt.“
„Wir müssen die Pferde ausschalten. Nur Mann gegen Mann haben wir eine Chance!“
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