Die Wut des Königs war so groß, daß er einige Frauen aus der Stadt einlud und ihnen von dem überheblichen Mönch im Wald erzählte. Er bot jeder von ihnen großen Reichtum an, die den Mönch verführen und ihn dazu bringen könne, seine Gelübde des Zölibats zu brechen. Eine der Frauen, eine Weinhändlerin, prahlte damit, daß sie dazu imstande sei; und sie ging in den Wald, um nach Ghantapa zu suchen. Als sie ihn schließlich fand, fragte sie ihn, ob sie seine Gehilfin werden könne. Ghantapa hatte keine Gehilfin nötig, aber er erkannte, daß sie aus früheren Leben eine starke Beziehung zueinander hatten, und so erlaubte er ihr zu bleiben. Ghantapa gab ihr spirituelle Anweisungen und Ermächtigungen, und sie schulten sich aufrichtig in Meditation. Nach zwölf Jahren erlangten beide die Vereinigung des Nicht-mehr-Lernens, die volle Erleuchtung.
Eines Tages entschlossen sich Ghantapa und die frühere Weinhändlerin, die Leute in der Stadt zu ermutigen, ein größeres Interesse am Dharma zu entwickeln. Deshalb kehrte die Frau zum König zurück und berichtete, daß sie den Mönch verführt habe. Zuerst zweifelte der König an der Wahrheit der Geschichte, doch als sie erklärte, daß sie und Ghantapa nun zwei Kinder hätten, einen Sohn und eine Tochter, war der König über diese Neuigkeit höchst erfreut und befahl ihr, Ghantapa an einem bestimmten Tag in die Stadt zu bringen. Dann gab er eine öffentliche Bekanntmachung heraus, die Ghantapa erniedrigte, und befahl seinen Untertanen, sich am verabredeten Tag zu versammeln, um den Mönch zu beschimpfen und zu demütigen.
An besagtem Tag verließen Ghantapa und die Frau mit ihren Kindern den Wald. Der Sohn war zu Ghantapas Rechten und die Tochter zu seiner Linken. Als sie die Stadt erreichten, lief Ghantapa, als wäre er betrunken, und hielt eine Schale in den Händen, in welche die Frau Wein einschenkte. Alle Leute, die sich versammelt hatten, lachten und verhöhnten ihn und schleuderten ihm Beleidigungen und Beschimpfungen entgegen. «Vor langer Zeit», warfen sie ihm höhnisch vor, «lud dich unser König in die Stadt ein, doch du lehntest die Einladung hochmütig ab. Nun erscheinst du betrunken und mit einer Weinhändlerin. Was für ein schlechtes Beispiel von einem Buddhisten und Mönch du doch bist!» Als sie geendet hatten, schien Ghantapa wütend zu werden und warf die Schale auf den Boden. Die Schale versank in der Erde, zerteilte den Boden und ließ eine Wasserquelle erscheinen. Ghantapa verwandelte sich augenblicklich in Heruka, und die Frau verwandelte sich in Vajrayogini. Der Junge verwandelte sich in einen Vajra, den Ghantapa in seiner rechten Hand hielt, und das Mädchen verwandelte sich in eine Glocke, die er mit seiner linken Hand hielt. Dann umarmten sich Ghantapa und seine Gefährtin und flogen zum Himmel hinauf.
Die Leute waren erstaunt und entwickelten augenblicklich großes Bedauern für ihre Respektlosigkeit. Sie verbeugten sich ehrfürchtig vor Ghantapa und baten ihn und die Ausstrahlung von Vajrayogini zurückzukehren. Ghantapa und seine Gefährtin lehnten jedoch ab; sie sagten aber zu den Leuten, daß sie Bekenntnisse vor Mahakaruna, der Verkörperung von Buddhas Großem Mitgefühl, ablegen sollten, wenn ihr Bedauern aufrichtig sei. Aufgrund der starken Reue der Menschen von Odivisha und der Kraft ihrer Gebete entstand aus der Wasserquelle eine Mahakaruna-Statue. Die Menschen von Odivisha wurden sehr hingebungsvolle Dharma-Praktizierende, und viele von ihnen erlangten Realisationen. Die Mahakaruna-Statue kann auch heute noch betrachtet werden.
Aufgrund der reinen Heruka- und Vajrayogini-Praxis, die Ghantapa im Wald ausübte, sah Vajrayogini, daß für ihn der richtige Zeitpunkt gekommen war, ihre Segnungen zu erhalten, und so manifestierte sie sich als Weinhändlerin. Durch das Zusammenleben mit ihr erlangte Ghantapa den Zustand des Reinen Dakinilandes.
Auch König Darikapa war einer der vierundachtzig Mahasiddhas. Er erhielt Ermächtigungen und Anweisungen über Heruka und Vajrayogini von Luyipa. Luyipa prophezeite, daß Darikapa schnell Erleuchtung erlangen würde, wenn er sein Königreich aufgeben und sich in der Vajrayogini- und Heruka-Praxis sehr bemühen würde. Darikapa verließ augenblicklich seinen Palast und wanderte als Bettler von einem Ort zum andern und praktizierte bei jeder Gelegenheit Meditation. In einer Stadt in Südindien traf er auf eine wohlhabende Kurtisane, die eine Ausstrahlung von Vajrayogini war. Die Frau besaß eine große Villa, in der er zwölf Jahre lang als ihr Diener arbeitete. Am Tag führte er niedere Tätigkeiten in und um das Haus herum aus, und in der Nacht praktizierte er Luyipas Anweisungen. Nach zwölf Jahren erlangte er die fünfte Stufe der Vollendungsstufe, die Vereinigung, die Lernen braucht. Es hieß, daß Darikapa und das ganze Gefolge der Kurtisane von vierzehntausend Personen das Reine Dakiniland erlangten. Auf diese Weise erhielt Darikapa die Führung von Vajrayogini.
Auch ein Novizenmönch namens Kusali kam unter die Obhut von Vajrayogini. Eines Tages, als er den Ufern des Ganges entlang reiste, traf er eine alte, leprakranke Frau mit großen Schmerzen, die den Fluß überqueren wollte. Kusali wurde von Mitgefühl für die Frau überwältigt. Er band sie mit seinem Umhang auf seinem Rücken fest und begann den Fluß zu durchwaten, doch auf halbem Weg verwandelte sich die leprakranke Frau in Vajrayogini und führte ihn zum Land der Dakinis.
Purang Lotsawa war ein großer Lehrer, der in der Nähe des Klosters Shiri im westlichen Tibet lebte und viele spirituell fortgeschrittene Schüler hatte. Als er aufgrund verschiedener Anzeichen bemerkte, daß er bereit war, das Reine Dakiniland zu erreichen, grub er eine kleine Höhle in einen Berghang, wo er in einsamer Meditation zu leben gedachte. Als er die Höhle zu Beginn seines Retreats betrat, verkündete er, daß seine Kehle von den Dharma-Beschützern durchgeschnitten werden sollte, wenn er sie verlassen würde, bevor er das Reine Dakiniland erreichte. Er befahl seinem Gehilfen, den Eingang seiner Höhle zu versiegeln und nur ein kleines Loch offen zu lassen, durch das Essen und Trinken gereicht werden konnten.
Einige Zeit später kam ein tantrischer Yogi, von acht Frauen begleitet, und verlangte Purang zu sehen. Der Gehilfe schickte sie weg; doch als er Purang am Abend von den Besuchern erzählte, wurde ihm die Anweisung gegeben, niemanden wegzuschicken, der ihn zu sehen wünsche. Als die Besucher am nächsten Tag zurückkehrten, zeigte ihnen der Gehilfe die Höhle. Da er vermutete, daß sie keine gewöhnlichen Leute waren, hielt er Ausschau nach einem Ort, wo er sich verstecken und sehen konnte, was geschehen würde. Doch als er schließlich einen geeigneten Ort gefunden hatte, hatten die Besucher auf unerklärliche Weise die Höhle betreten. Der Gehilfe schlich sich zum kleinen Loch in der Seite der Höhle und spähte hinein. Die Höhle war von strahlendem Licht erfüllt. Die acht Frauen saßen in einer Reihe, der Yogi an einem Ende und Purang am anderen. Der Yogi rollte Briefe aus Gold, die er den Frauen reichte. Diese wiederum gaben sie an Purang weiter, der sie zu essen schien. Purang bemerkte seinen Gehilfen, der durch das Loch spähte, und schrie, er solle fortgehen. Der Gehilfe verschwand sofort. Später, als er mit dem Abendessen zurückkam, saß Purang ganz allein da, ohne die geringste Spur von dem Yogi oder den acht Frauen. In jener Nacht ging Purang zum Reinen Land von Vajrayogini.
Am nächsten Morgen brachte der Gehilfe Purangs Frühstück, doch er fand die Höhle leer vor. Obwohl er überzeugt war, daß Purang das Reine Dakiniland erreicht hatte, befürchtete er, daß andere denken könnten, daß er die Ursache für Purangs Verschwinden sei. Um solchen Verdächtigungen vorzubeugen, rief er ein paar Leute zusammen und zeigte ihnen, daß das Siegel zu Purangs Höhle nicht aufgebrochen war. Obwohl einige Leute davon überzeugt waren und daran glaubten, daß Purang das Reine Dakiniland erreicht hatte, verdächtigten andere den Gehilfen immer noch des Mordes.
Читать дальше