Geshe Kelsang Gyatso - Führer ins Dakiniland

Der Geist des Klaren Lichts manifestiert sich automatisch während des Schlafes und während des Todes, aber nur diejenigen, die in der Vollendungsstufenmeditation bewandert sind, sind fähig, während dieser Zeit Achtsamkeit zu bewahren. Die meisten Menschen können weder das Klare Licht des Schlafes noch das Klare Licht des Todes erkennen. Außer im Schlaf und beim Tod ist der einzige andere Zeitpunkt, wo sich das Klare Licht manifestiert, wenn alle Winde im Zentralkanal durch die Kraft der Vollendungsstufenmeditation gesammelt und aufgelöst werden. Yogis, die bewirken können, daß sich das Klare Licht auf diese Weise manifestiert, können diesen Geist benutzen, um über Leerheit zu meditieren. Während des Einschlafens und während des Schlafes bleiben sie achtsam und benutzen das Klare Licht des Schlafes, um ihre Erfahrung von Leerheit zu vertiefen. Im Tiefschlaf sammeln sich die Winde auf natürliche und kräftige Weise und lösen sich im Zentralkanal auf, und das Klare Licht, das sich zu jenem Zeitpunkt manifestiert, ist reiner, als jenes, das ein Anfänger der Vollendungsstufenmeditation durch die Meditation allein herbeiführen kann. Deshalb wird für diese Yogis der Schlaf äußerst wertvoll. Ihre tiefgründigste Erfahrung von Leerheit erfolgt während des Tiefschlafs.

Meditierende, die mit dem Umwandeln des Klaren Lichts des Schlafes in den spirituellen Pfad vertraut sind, werden auch fähig sein, das Klare Licht des Todes umzuwandeln. Sie werden während des Todesprozesses bei Bewußtsein bleiben, und wenn das Klare Licht des Todes dämmert, werden sie fähig sein, es in das endgültige Beispiel-Klare-Licht umzuwandeln. Diese Realisation verhindert direkt den gewöhnlichen Tod. Aus diesem Grund ist das Umwandeln des Schlafes in den Pfad eine der Hauptübungen des Geheimen Mantras und eine der wichtigsten Methoden zur Erlangung der Erleuchtung.

Es gibt zwei Arten, den Yoga des Aufwachens zu praktizieren, abhängig davon, auf welche Art wir den Yoga des Schlafens praktizieren. Wenn wir gemäß der Erzeugungsstufe schlafen, sollten wir den Yoga des Aufwachens gemäß der Erzeugungsstufe praktizieren, und wenn wir gemäß der Vollendungsstufe schlafen, sollten wir den Yoga des Aufwachens gemäß der Vollendungsstufe praktizieren.

Nach dem Aufwachen sollten wir uns augenblicklich an unsere Visualisierung der vorangegangenen Nacht erinnern und versuchen, gewöhnliche Erscheinungen zu verhindern. Wir sollten drei Erkenntnisse entwickeln: erstens, daß die Welt ein Reines Dakiniland und unser Zimmer ein Phänomenenquellen-Mandala ist; zweitens, daß wir Vajrayogini sind; und drittens, daß alle anderen Wesen Helden und Heldinnen sind. Wir stellen uns vor, daß Dakas und Dakinis im Raum um uns herum das Vajrayogini-Mantra rezitieren. Dies bewirkt, daß wir mit der freudigen Motivation aufwachen, anderen zu helfen. Den ganzen Tag über betrachten wir alle Klänge, die wir hören, als den Klang dieses Mantras.

Während wir uns ankleiden, stellen wir uns vor, daß wir uns, als Vajrayogini erzeugt, die fünf Schmuckstücke wie die Krone und die Ohrringe darbringen, anstatt gewöhnliche Kleider anzuziehen. Dann verbeugen wir uns dreimal vor unserem Wurzel-Guru auf dem nördlichen Blütenblatt des Lotos. Dies bewirkt, daß unser Guru den freudigen Wunsch verspürt, in unseren Körper und Geist einzutreten. Wir stellen uns vor, daß er zu Licht schmilzt und sich auf die Größe eines kleinen Eies verkleinert. Er tritt dann durch unseren Scheitel ein und löst sich in den Buchstaben BAM bei unserem Herzen auf.

Den ganzen Tag über sollten wir uns daran erinnern, daß unser Guru in der Form eines Buchstabens BAM bei unserem Herzen ist. Wir sollten außerdem den göttlichen Stolz bewahren, daß unser Körper und unser Geist Vajrayoginis Körper und Geist sind, daß unser Zimmer das Phänomenenquellen-Mandala und die Welt das Reine Dakiniland ist und daß alle Wesen Heldinnen und Helden sind. Wenn wir im Begriff sind, negative Geisteshaltungen zu entwickeln, sollten wir uns sofort diese Erkenntnisse in Erinnerung rufen. Wenn wir diese reine Erscheinung beibehalten können, wird es keine Grundlage für das Entstehen von Verblendungen geben. Wir sollten versuchen, diese drei Erkenntnisse beizubehalten, bis wir schlafen gehen, und erneut den Yoga des Schlafens praktizieren.

Der Yoga des Aufwachens wird kontinuierlich während des Tages, und der Yoga des Schlafens wird kontinuierlich während der Nacht praktiziert. Wenn wir diese zwei Yogas gewissenhaft praktizieren, werden alle unsere täglichen Handlungen zu einem schnellen Pfad zur Erleuchtung werden, und die Buddhaschaft wird sicherlich binnen kurzem erlangt werden.

Wenn wir gemäß dem Vollendungsstufen-Yoga, versunken im Klaren Licht der Leerheit, geschlafen haben, stellen wir uns beim Aufwachen vor, daß wir sofort aus dem Zustand der Leerheit in der Form von Vajrayogini entstehen, etwa so wie Wolken ganz plötzlich an einem klaren Himmel erscheinen können. Wie bei der Praxis der Erzeugungsstufe sollten wir uns die drei Erkenntnisse in Erinnerung rufen: wir als Vajrayogini, die Welt als Reines Dakiniland mit unserem Zimmer als Phänomenenquellen-Mandala und alle Wesen als Heldinnen und Helden. In der vorangegangenen Nacht lösten wir alle Phänomene in Leerheit auf, und unser Geist des Klaren Lichts war mit dieser Leerheit untrennbar vermischt und wurde als Dharmakaya identifiziert. Aus dieser Vereinigung von Glückseligkeit und Leerheit erscheint nun eine neue Welt, die aus der Substanz unseres glückseligen Geistes entsteht und die gleiche Natur wie unser Geist hat. Wenn wir so denken, wird es leicht sein, reine Erscheinung zu erzeugen und die drei Erkenntnisse zu entwickeln.

Wir sollten die drei Erkenntnisse während des Tages mit Entschiedenheit beibehalten und sie uns immer wieder in Erinnerung rufen, bis wir schlafen gehen. Um diese Praxis aufrechtzuerhalten, benötigen wir Achtsamkeit und Wachsamkeit. Indem wir uns auf Achtsamkeit verlassen, sollten wir die Motivation und die drei Erkenntnisse, die wir beim Aufwachen erzeugt haben, beibehalten. Von Zeit zu Zeit sollten wir Wachsamkeit anwenden, um zu prüfen, ob wir diese Erkenntnisse immer noch aufrechterhalten. Wenn wir es versäumen, Wachsamkeit anzuwenden, wird unsere Praxis, die drei Erkenntnisse beizubehalten, schnell degenerieren. Wir werden die reine Erscheinung verlieren und dazu zurückkehren, uns als gewöhnlich anzusehen. Dies geschieht, weil wir so an gewöhnliche Erscheinung gewöhnt sind. Jedesmal wenn wir feststellen, daß wir unsere anfängliche Motivation oder die drei Erkenntnisse vergessen haben, sollten wir sie uns augenblicklich in Erinnerung rufen. Um reine Erscheinung zu bewahren, müssen wir keine Worte rezitieren oder auf einem Kissen sitzen. Wenn unsere täglichen Handlungen mit Achtsamkeit auf die drei Erkenntnisse ausgeführt werden, werden sie alle zu einer Methode, schnell Erleuchtung zu erlangen.

Wenn wir fähig sind, diese drei Erkenntnisse jederzeit beizubehalten, wird uns alles, was wir sehen, helfen, Große Glückseligkeit zu entwickeln. Nichts wird uns als häßlich, irritierend oder widerlich erscheinen. Alles, was von unseren Sinnen erfahren wird, wird attraktiv für uns sein und wird reines Vergnügen hervorrufen. Weil wir auf dieser Stufe sehr mit der Meditation über die Vereinigung der Glückseligkeit und Leerheit vertraut sein werden, werden uns sogar unsere Sinnenfreuden an Leerheit erinnern. Folglich können alle unsere täglichen Erfahrungen durch das Beibehalten der drei Erkenntnisse in die Weisheit der Großen Glückseligkeit und Leerheit umgewandelt werden. Die Praxis der drei Erkenntnisse ist die höchste moralische Disziplin des Vajrayana.