Ich erhob mich von Lisys Körper und starrte ihn an.
Er zuckte erschrocken zusammen. Als würde er ein Gespenst sehen.
Hatte er Angst vor mir?
»Gefällt dir nicht, was du siehst? Das wolltest du doch?«, hielt ich ihm aufgebracht vor.
»Cara, ich ... Du bist immer noch toll und ... Und die Wirkung wird nachlassen«, murmelte er verunsichert.
Als suchte er nach den richtigen Worten.
Aber was sollte man in so einem Moment schon sagen?
Spürte er, dass er mich auf keinen Fall provozieren sollte? Glaubte er, ich würde ihn töten?
»Ich soll toll sein? Sieh mich doch an! ... Sieh dich um! ... Was ist daran toll?«, erwiderte ich wütend und spürte, wie die Hitze dieser seltsamen Kräfte erneut in meinem Körper aufflackerte. Diese Flamme war so stark und so ungewöhnlich.
Was um Himmelswillen war das?
Mein Körper war so angespannt, so aufgewühlt, dass ich ihn nur mit Mühe und Not unter Kontrolle halten konnte. Natürlich hätte ich der Flamme und dieser unsäglichen Wut, welche sich nun mit meiner Verzweiflung paarte, den Vortritt lassen können.
Dann hätten meine Hände Rey gepackt und durch das Zimmer geschleudert. Hätten ihn zur Rechenschaft gezogen. Doch umso mehr ich mich und meine Taten betrachtete, umso mehr wurde mir bewusst, dass das einfach nicht ich war.
Ich war dabei, mich selbst aufzugeben. Das durfte ich nicht zulassen.
Und was wusste ich schon von ihm?
Welche Rolle spielte er in diesem ganzen Unheil?
Ich blickte ihn angeekelt an.
Musste ich vor ihm auf der Hut sein?
Rey sah sich unterdessen um. Er hob Mikes und Erics Körper hoch, aber sie bewegten sich nicht mehr.
»Tot!«, flüsterte er leise, als sollte ich es nicht hören.
Aber mein Gehör war mittlerweile so gut, dass ich sogar das Auto hören konnte, was sich der Burg näherte. Rey ging weiter zu Stene, der regungslos neben dem Tisch lag. Er fühlte seinen Puls – nichts.
Ich wusste es.
Im tiefsten Inneren hatte ich es schon gewusst.
»Ich habe sie getötet«, sagte ich leise.
Rey richtete sich auf und war sichtlich geschockt: »Ja. Willst du mich jetzt auch töten ... Ich würde es verstehen.« Er wurde immer leiser, aber er wusste, dass ich ihn noch hörte.
Empfand er tatsächlich so etwas wie Schuld? War er Mitschuld?
»Nein«, antwortete ich kurz, während ich langsam Lisys Hand losließ. »Zumindest im Moment nicht.«
»Ich will es wieder gut machen! Was soll ich tun?«, fragte er schnell. In der Hoffnung, dass er die ganze Sache irgendwie wieder gut machen könnte.
»Du kannst mir erklären, was das war und wie ich es wieder loswerde. Ich will es nicht! Und vor allem kannst du mir sagen, was wir jetzt tun sollen. Hier liegen schließlich vier Leichen!«, antwortete ich patzig.
Ich wollte seine Hilfe nicht, aber wir brauchten eine Lösung, denn ich konnte das Auto immer noch hören. Es war nicht, wie ich gehofft hatte, an der Kreuzung abgebogen, sondern kam direkt hierher. Wenn ich in diesem Moment hätte raten sollen, wer es ist, wäre mir nur Stenes Großvater eingefallen. Aber egal, wer es war, es bedeutete jede Menge Ärger.
Während ich noch darüber nachgrübelte, reagierte Rey bereits: »Die Wirkung wird gleich nachlassen. Erst nach der dritten Infusion wird es endgültig, soviel weiß ich. Allerdings könnte jede dich umbringen.«
»Toll!«, murmelte ich: »Danach ist mir jetzt zu Mute.«
»Nein! Bitte … Bitte, tu es nicht!«, entgegnete er daraufhin. Ich hatte unterschätzt, wie groß seine Gefühle scheinbar für mich waren.
»Eins ist mir jetzt klar geworden. Lieber geh ich ins Gefängnis, als das dir was passiert«, fügte er bestimmend hinzu. Das machte mich ein wenig sprachlos.
Aber meinte er das wirklich ernst?
Oder belog er mich vielleicht, um sich einen Vorteil zu verschaffen? Es war schwer, Rey einzuschätzen.
»Ich glaube, da ist jemand auf dem Weg zu uns. Ich kann das Auto hören«, antwortete ich schließlich.
Rey runzelte die Stirn. Er war verwundert, dass ich so gut hören konnte.
»Das hier darf und wird niemand erfahren«, antwortete er. Während der Regen draußen stärker wurde, schnappte sich Rey die Phiolen mit meinem Blut und ließ sie in seine Tasche verschwinden. Dann packte er mein Glas ein. Etwas verwundert blieb ich zunächst neben Lisys Körper zurück. Ich hatte ohnehin mit mir zu tun.
Die Wut und die Kraft ließen langsam nach. Ich atmete langsam ein und aus. Mit jedem Atemzug schien die Wärme meinen Körper zu verlassen.
Meine Kontrolle über mich selbst zurückzukehren.
Es fröstelte mich. Erstmals spürte ich den stechenden Schmerz an der Wunde.
»Alles Ok?«, fragte Rey.
»Ja, geht schon. Es lässt nach«, entgegnete ich. Langsam war ich wieder ich selbst. Zumindest fast.
Die Schuppen verschwanden genauso wie meine Kraft. Sodass ich plötzlich komplett nackt vor ihm stand.
Rey warf mir seinen Mantel zu, ohne mich dabei anzusehen. Ich zog ihn, so schnell ich konnte, über.
»Was hast du vor?«, fragte ich, nachdem mir allmählich wärmer wurde.
»Wir brennen alles ab, dann verschwinden die Spuren«, sagte er und sammelte alles Holz in der Mitte zusammen.
Verbrennen? Hatte er das wirklich gerade gesagt?
Zum Glück sah er nicht, was ich dachte.
Er war zu beschäftigt damit, alle Spuren zu verwischen.
Ich blickte mich im Raum um und entdeckte auf dem Tisch, auf dem ich gelegen hatte, die zwei anderen Infusionen. Ich steckte sie in meine Taschen.
Wieso ich das tat, wusste ich nicht. Es war wie ein Reflex. Als riefen sie nach mir.
Rey ordnete unterdessen die Leichen so an, als hätte Stene die zwei anderen an den Kamin gestoßen und getötet. Es sollte so aussehen, als wäre er aus Wut darüber, dass sie über Lisy hergefallen waren, ausgerastet. Anschließend hatte er sich aus Kummer und Leid im Brand selbst das Leben genommen.
Eine einfache Geschichte, glaubwürdig oder nicht, zählte in diesem Moment nicht. Nachdem er alle positioniert hatte, zündete er direkt neben Stene das Feuer. Es breitete sich schnell aus und hüllte den gesamten Raum in einen schwarzen Dunst.
»Das war’s«, sagte Rey und nahm mich bei der Hand: »Jetzt aber nichts wie raus hier. Da hinten ist eine Terrasse, da gehen wir raus.«
Er führte mich in den hinteren Teil des Zimmers zu einer Tür, die man aufgrund des Rauchs bereits nicht mehr sehen konnte, und wir traten hinaus.
Draußen war es nicht nur nass, sondern auch kalt. Barfuß lief ich ihm hinterher. Erst durch den Wald, dann den Berg hinunter. Wir wollten nur noch weg.
So weit uns unsere Füße tragen würden.
Manchmal muss man Wege erst gehen,
bevor man das Ziel findet.
(Cara)
Rey und ich hatten uns in einer Höhle am Fuß des Berges verkrochen. Es war kalt und nass, aber zumindest waren wir sicher.
»Sie scheinen die Leichen gefunden zu haben. Ich habe mindestens drei Polizeiwagen hinauffahren sehen. Wie geht es dir?«, Rey blickte mich fragend an.
»Ich weiß nicht, irgendwie komisch, als hätte es immer noch Macht über mich«, mir war schlecht und mein Magen knurrte laut. Wie konnte mein Körper jetzt an Essen denken.
»Das wird schon wieder«, versuchte er mich zu beruhigen. Aber es gelang ihm nicht. Mein Kopf war voller Gedanken und Emotionen. Ich konnte ihn nicht einfach abschalten. Und vor allem war ich mir immer noch nicht sicher, ob ich Rey wirklich vertrauen sollte.
Er setzte sich neben mich und legte seine Hand um meine Hüfte. Dabei bemerkte er die Infusionen in meiner Tasche: »Was hast du da? Das sind doch nicht etwa … die Infusionen? Was soll das? Was willst du damit?«
Ich stieß ihn von mir weg. Einerseits, weil ich seine Nähe nicht wollte, andererseits um die Infusionen vor ihm zu schützen. Es war wie ein Instinkt.
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