Von seinem eigenen Schwung getragen stürzt Vilcas Freund nach vorne auf die Pritsche. Nur mit Mühe kann er sich rechtzeitig abstützen. Ungeschickt stößt er mit dem Schienbein gegen die Kante. Der tollpatschige Angriff verbunden mit einem ‚Aua' entlockt seiner Gefolgschaft herzhaftes Gelächter.
Das stachelt Rob erst recht an. Er verzerrt sein Gesicht zu einer Fratze und geht mit Schlägen und Fußtritten auf den Kalifornier los. Der verteidigt sich eine Zeitlang, aber Vilcas Freund ist ein erfahrener Kampfsportler. Schließlich landet er einen Treffer an Sams Schläfe, der ihn zu Boden schickt. Obwohl der Kalifornier bewegungslos liegen bleibt, gibt ihm Rob noch einen Tritt in die Rippen. Als er zu einem weiteren Kick ausholt, packt ihn Vilca am Arm und reißt ihn zurück.
Es kommt immer wieder vor, dass sich Jungs wegen Vilca prügeln. Schon früh hatte sie es sich zur Regel gemacht, sich rauszuhalten. Für die groben Sachen hat sie ja Rob. Aber sie kann nicht zusehen, wie jemand, der wehrlos am Boden liegt, getreten wird. Noch dazu bei einem Jungen, der ihr etwas bedeutet.
»Hör auf, Rob«, beschwört sie ihn. »Du siehst doch, dass er bewusstlos ist und sich nicht wehren kann. Was soll denn das? Das hast du doch gar nicht nötig«.
Rob ist in Fahrt und verwaltet einen gehörigen Überschuss an Testosteron.
»Von dir lasse ich mir gar nichts vorschreiben«, schreit er und versucht ihr den Arm auf den Rücken zu drehen.
Mit der Anwendung seiner Judotechnik unterschätzt er seine Freundin. Diese befreit sich mit einer eleganten Drehung aus seinem Griff und kontert. Per meisterhaft ausgeführten Armhebel wirft sie ihn zu Boden. Obwohl der Grasboden den Sturz abfedert, bleibt er benommen liegen.
Vilca beugt sich über Sam, der gerade wieder zu Bewusstsein kommt.
»Ahh«, stöhnt er«, und greift sich an den Kopf. Dann sieht er Rob am Boden liegen. »Oh, wer hat den denn flach gelegt«?
Vilca sieht ihn besorgt an. »Bist du okay?«
Sam blinzelt. »Ich denke schon. Allerdings dröhnt mir der Schädel«.
»Kein Wunder«, stellt sie trocken fest. »Wenn du vorhast, dich weiterhin mit solchen Typen zu prügeln, solltest du besser vorher üben. Ich kann dir Lo Hoon Kwoons Dojo wärmstens empfehlen.«
Mittlerweile kommt der Sicherheitsdienst der Universität angelaufen. Der Trupp besteht aus einem Anführer in schwarzer, polizeiähnlicher Uniform und drei kräftig gebauten, humanoiden Robotern, die nicht so aussehen, als ob sie Spaß verstünden. Man fackelt nicht lange und nimmt Vilca, Sam und Rob kurzerhand mit. Jeder der Streithähne wird von einem Roboter am Handgelenk gehalten.
Die Aufzeichnungen zeigen schnell, dass Rob mit der Schlägerei anfing. Der versucht, sich herauszureden, und behauptet, dass er provoziert wurde, aber das interessiert den Präsidenten nicht.
Er zitiert die einschlägigen Regeln der Universität und betont die notwendige Strenge. Mit einer Weltbevölkerung von über elf Milliarden wird aggressives Verhalten nirgendwo toleriert. Der Leiter verkündet, dass er Rob im Wiederholungsfall von seiner Lehranstalt verweist.
Da sowohl Vilca als auch Sam auf eine Anzeige verzichteten, kommt Rob mit einhundert Stunden Sozialdienst und der Teilnahme an einer Aggressionsbewältigungstherapie noch gut weg.
Auf dem Weg nach Hause brütet Sam über Vilcas Rat. Einerseits widerstrebt es ihm wertvolle Zeit für Kampfsport zu verschwenden. Andererseits gerät er als Halbblut immer wieder in Situationen, in denen er sich verteidigen muss. Deshalb würde es nicht schaden, ein paar Tricks zur Selbstverteidigung zu kennen. Außerdem nagt Robs K.O.-Schlag an seinem Selbstbewusstsein.
Dass er im Dojo auf Vilca trifft, wundert ihn kaum. Ein wenig erstaunt ist er jedoch, dass ihr Training immer nach seinem stattfindet. So kann sie ihm ausführlich zusehen, wie er sich als Anfänger abmüht. Ob das Zufall ist?
Nach einigen Wochen ist sich Vilca noch immer nicht über ihr Verhältnis zu Sam im Klaren. Nachdem er nun auch mit regelmäßigem Kampfsporttraining begann, sehen sie sich fast jeden Tag. Trotzdem hat er sie noch nicht einmal gefragt, ob sie mit ihm ausgehen möchte. Das ist ihr noch nie passiert. Das kratzt an ihrem Stolz.
Anfangs wollte sie abwarten, ob er das Programm mit ihr länger als vier Wochen durchhalten würde. Der Rekord unter Tanzpartnern von der Uni liegt bisher bei knapp einem Monat. Jetzt tanzen sie schon über sechs Wochen zusammen ohne, dass etwas passiert ist.
Sie fragt sich, ob er es nicht heimlich mit seiner KI treibt. Er wäre nicht der Einzige, der heutzutage nur noch Cybersex mit Computergeschöpfen hat. Vilca zieht eine Schnute. Kann sie es mit einer intelligenten Computeranimation aufnehmen? Möchte sie das überhaupt? Diese Enola ist gefährlich perfekt.
Das Mädchen wirft einen Blick in ihren Ankleidespiegel. Sie hat mehr zu bieten als jede Cybertussi. Viel mehr. Sie ist ein Mensch aus Fleisch und Blut mit echten Gefühlen für Sam. Außerdem ist sie hochbegabt und steht kurz davor mit ihrer Gesangskarriere durchzustarten.
Sie dreht sich einmal um ihre Achse und streicht mit den Händen über ihr Designerkleid. Es passt wie angegossen. Vilca betrachtet ihr Ebenbild von unten nach oben. Hübscher als diese Enola ist sie allemal.
Die Sängerin schüttelt den Kopf, dass die Locken fliegen. Sie versteht nicht, wie jemand sie so lange zappeln lassen kann. So blind kann er doch nicht sein, dass er die Zaunpfähle, mit denen sie ihm winkt, nicht sieht.
Schließlich beschließt sie, den ersten Schritt zu unternehmen. Das hatte sie noch nie nötig. Für Sam wird sie eine Ausnahme machen. Am Wochenende geben ihre Eltern eine Party für Geschäftsfreunde. Dafür braucht sie ohnehin eine Begleitung. Nachdem mit Rob Schluss ist, lädt sie Sam ein und will ihn ihren Eltern vorstellen. Sie findet es passend, dass er für Rob einspringen muss. Er schuldet ihr das.
1 Verführung
2054:
Der gutaussehende Mann zelebriert sein Entree in das Nachtcafé. Sein Auftritt löst ein Raunen bei den Gästen aus. Er genießt es, wie sich alle Köpfe nach ihm umdrehen. Für einen Moment hält die Welt den Atem an. Nur für einen Augenblick, aber dem jungen Adonis genügt die Aufmerksamkeit für seine Zwecke. Zufrieden bahnt er sich einen Weg durch die Menschenmenge Richtung Bar. Willig weichen die Gäste vor seinen ausladenden Flügeln zurück.
Luca lächelt in sich hinein. Engel zu sein, bringt eben auch Vorteile mit sich. Noch mehr gilt das für gefallene Engel. Wenn die wüssten! In Wahrheit ist seine Kleidung grau und unscheinbar. Auch musste er sich ein paar Jahre älter machen, als er ist, sonst hätte ihn der Türsteher-Roboter am Eingang nicht durchgelassen.
Alles kein Problem mit Augmented Reality. Sie macht die physische Realität zur Nebensache. Wie jemand aussieht und was er ist, bestimmt allein die digitale Signatur. Aber nur für den, der sie sich zu Nutzen machen weiß. Luca hat sie gemeistert. Natürlich nur, wenn alle mitspielen und Augmented Reality verwenden. Aber das tut ja heutzutage jeder.
An der Bar angekommen bestellt Luca zwei Cocktails. »Mit echtem Alkohol und Zucker?«, fragt der Barkeeper.
»Was denn sonst?«, erwidert der Italiener herablassend. »Ich bestelle doch keinen Mai Tai, um dann mit langweiligen gesundheitssystemkonformen Ersatzstoffen abgespeist zu werden. Sehen Sie meine virtuell eigeblendete Freigabe für Alkohol und Zucker nicht?«
Um seiner Forderung Gewicht zu verleihen, breitet er seine Schwingen aus. Die Geste verdunkelt die halbe Bar. Einige Leute weichen unwillkürlich vor den Flügeln zurück, obwohl es in Wirklichkeit nichts gibt, das sie bedroht.
»Wie der Herr meint«, kommentiert der Cocktailmixer mit der liebenswürdigen Herablassung eines echten Wiener Kellners. Luca genießt das Ergebnis. Eine weitere Streicheleinheit für sein Hacker-Ego. Traditionellen Mai Tai bekommen selbst Erwachsene in öffentlichen Bars nicht so leicht. Zwei sind praktisch unmöglich, nachdem die Gesundheitsbehörden weltweit das Kriegsbeil zum Kampf gegen Alkohol und Zucker ausgruben. Immerhin entspricht ein Mai Tai bereits der halben Monatsration eines Durchschnittserwachsenen.
Читать дальше