»Es ist eine verrückte Welt, da stimme ich dir zu. Es passieren zu viele Dinge, die wir uns nicht erklären können. Jemanden zu verlieren, der einem viel bedeutet ist unerträglich. Tut mir leid, um deinen Verlust.«
Tom sah den Mörder neben sich an, suchte nach einer Spur von Falschheit, doch es zeichnete sich ehrliche Bestürzung auf seiner Miene ab.
»Danke«, brachte er erstickt heraus.
Der Totenläufer hob seinen Arm, winkte den Barkeeper heran und bestellte zwei Klare. Er legte Tom eine Hand auf den Rücken und sagte: »Lass uns auf deine Freundin trinken. Keiner sollte ohne Grund sterben.«
Es widerte ihn an. Die Berührung, die Freundlichkeit. Er musste sich zusammenreißen.
»Danke, das weiß ich zu schätzen.«
Gemeinsam stießen sie auf das Leben an und tranken auf ex. Der Alkohol floss durch Toms Glieder und wärmte ihn angenehm. Wenigstens etwas Normalität. Auf die Wirkung von Schnaps konnte man sich immer verlassen.
Tom klopfte sich auf die Brust und hustete kurz, so als kämpfe er mit dem Geschmack des Alkohols.
»Verträgst wohl nichts, was?«
»Nein, nicht wirklich. Ich komm so oft hierher, aber der Alkohol und ich, wir haben ein merkwürdiges Verhältnis …«
»Ist nicht jeder gleich.« Er machte eine Pause und fügte hinzu: »Und du bist wirklich öfter hier? Hab dich noch nie gesehen.«
»Ja, ich sitze meist hinten in der Ecke, aber heute war es irgendwie anders.«
»Hm«, sagte der Totenläufer, »heute solltest du mich treffen.« Tom versuchte zu deuten, was er damit sagen wollte. Glaubte er an Schicksal? War das der dezente Hinweis darauf, dass er ihn durchschaut hatte? Oder doch nur eine Floskel?
»Wahrscheinlich«, sagte Tom und entschied, trotz Unsicherheiten einen Vorstoß zu wagen. Irgendwann musste er ja den Spieß umdrehen. »Und, was verschlägt dich in diese Kneipe?«, fragte er. »Doch sicher nicht eine vergangene Liebe?«
Der Totenläufer fasste in seine Manteltasche und zog eine Münze heraus, die nach einem Einzelstück aussah. Auf die Vorderseite war ein Falke geprägt. Nichts, was man in Red-Mon-Stadt normalerweise zu Gesicht bekam. Er hielt sie ins Licht und meinte: »Die habe ich heute gefunden. Jemand hat sie nach Red-Mon-Stadt geschmuggelt. Ich wollte der Frage nachgehen, wer sie wohl hierher gebracht hat. Dazu lasse ich gern meine Gedanken baumeln.«
»Dann bist du sowas wie ein Hygienepolizist?«
Der Totenläufer lachte bitter. »Nein, mein Job ist komplizierter. Das ist eher ein Hobby. Ich sammele Geschichten. So wie deine. Wenn mich etwas interessiert, dann frage ich nach und manchmal entdecke ich etwas Gutes. Das ist so, als würde ich einen Film sehen. Einen dieser alten Streifen, die verstaubt wirken, aber doch faszinierend sind. Man kann sich sowas nicht in die Vitrine stellen, aber sie bleiben einem im Gedächtnis. Erinnerungen sterben nicht, richtig?«
Sympathie. Erneut. Es war nicht zu leugnen. Auch wenn dieser Mann keinen Respekt verdient hatte, etwas an ihm strahlte von innen heraus.
»Das macht doch keinen Sinn«, sagte Tom. »Ich brauche Dinge, die ich anfassen kann.«
Der Totenläufer stellte die Münze auf ihre Kante und stieß sie an, sodass sie sich im Kreis drehte. Sie tanzte auf der Platte. Im trüben Licht der Barbeleuchtung glitzerte das Silber.
»Das ist der Fehler dieser Gesellschaft«, sagte der Totenläufer. »Wir sammeln Materielles, aber das, was wir nicht anfassen können, ist das, was wirklich Bedeutung hat. Freundschaften, Beziehungen, Vergangenes, Erinnerungen. Das macht uns aus.«
»Und Taten«, rutschte Tom heraus. Der Totenläufer sah zu ihm. Ein glimmender Funken schlug sich durch seine Augen. »Ich meine, machen uns nicht auch Taten aus?«
Die Münze schlingerte, verlor die Standhaftigkeit und hörte letztendlich auf zu kreisen.
»Du hast recht. Taten machen uns aus. Aber nicht etwa das, was wir getan haben, sondern der Grund, weshalb wir es getan haben.«
Er sprach im Wir, meinte jedoch sich selbst, das war unverkennbar. Welche Gründe konnte er haben, zu tun, was er tat? Geld? Rache? Hass?
»Gründe sind doch nicht alles. Das Ergebnis zählt.«
Der Totenläufer lachte und nahm die Münze zwischen die Finger.
»Das sagen sie alle, aber ich denke, das ist ein Missverständnis. Frag dich selbst, ob es wichtig ist, dass sich die Münze dreht, wenn ich sie anstoße oder ob es nicht wichtiger ist, warum ich sie angestoßen habe. Weil ich mich langweile und bereits abschweife? Weil ich dir damit etwas zeigen wollte? Weil ich einfach Lust darauf hatte.«
»Spielt das wirklich eine Rolle?«, fragte Tom. »Wenn ja, dann wäre meine Zeichnung nichts wert. Ich habe sie ja nur gezeichnet, weil ich gerade Lust darauf hatte.«
»Guter Punkt, aber wer sagt denn, dass das kein guter Grund ist?«
»Ist das irgendeine Philosophie? Klingt gewaltig danach.«
»Nicht direkt. Es war lange Zeit der Grundsatz der Rechtsprechung. Ohne Motiv gibt es keine Täter. Aber Red-Mon-Stadt hat seine eigenen Regeln. Hier zählt allein der Nutzen einer Tat. Im Grunde das Ergebnis.« Der Totenläufer nahm seinen Tequila und trank ihn in einem Schluck aus. »Das wird uns allen noch das Genick brechen.« Er sagte es leise und mehr zu sich selbst. Dann holte er sein Portemonnaie aus der Manteltasche, zog einige Geldscheine hervor und legte sie auf die Kneipentheke.
»Ich werde jetzt gehen, aber deine Drinks gehen auf mich. Tob dich aus.«
Zu früh. Der Moment war vorbei und Tom hatte es nicht einmal bemerkt.
»Du willst schon gehen?«, fragte er deshalb wie einstudiert.
»Man soll gehen, wenn es am besten ist, sagt man doch. Unser Gespräch hat mich auf eine Idee gebracht. Und so eine Idee hat man nicht jeden Tag.«
›Noch nicht‹, kreischte eine Stimme in Toms Kopf. ›Du musst ihn stoppen.‹
»Ich kann dich nicht überreden, noch eine Weile zu bleiben?«
»Ich fürchte nicht.« Der Totenläufer reichte Tom die Hand und er ergriff sie automatisch. Sein Handschlag war fest, aber nicht erdrückend.
»Es war ein gutes Gespräch. Wie war noch gleich dein Name?«
»Glenn. Ich heiße Glenn«, sagte Tom und kam sich dumm vor.
»Glenn also. Vielleicht kreuzen sich unsere Wege ja noch ein zweites Mal.«
Der Totenläufer löste sich aus der Berührung, wandte sich ab. Toms Kehle wurde trocken. Es durfte nicht umsonst gewesen sein. Der ganze Aufwand und dann das? Er musste es probieren. Entweder oder.
»Wie heißt du eigentlich?«
Der Held Red-Mon-Stadts drehte sich um, sah ihn an, dachte nach. Namen wurden nur intern weitergegeben. SDF-Soldaten waren nur so lange geschützt, wie sie außerhalb der Einsätze anonym blieben. Er rang mit diesem Fakt und Tom konnte die abschmetternde Antwort bereits von seinen Lippen ablesen. Doch nicht zum ersten Mal an diesem Abend wurde er vom Gegenteil überrascht.
»Neel«, sagte er. »Neel Talwar.«
Dann verließ der Totenläufer die Kneipe und das Einzige, was zurückblieb, waren Tom und sein kalter Herzschlag. Er hatte ihn. Seinen Namen. Der Geruch des Sieges lag in der Luft, doch er hatte etwas Bitteres an sich, das ihm Sorgen bereitete. Irgendetwas an Neel Talwar war ganz und gar nicht so, wie es sein sollte.
X
Der Entschluss, dem Totenläufer zu folgen, kam spontan. Als Tom im schummrigen Licht der Bar seine Zeichnung betrachtete, die unruhigen Linien und das Schwarz der Striche, wurde ihm bewusst, dass er mehr wissen wollte. Über Neel Talwar, der vorgab, Interesse an Schicksalen zu haben und dennoch seiner Rolle als Schlächter der Kriminellen und Wahrer der Sicherheit nachkam. So einfach konnte er es nicht auf sich beruhen lassen. Deshalb packte er die Zeichnung ein und verließ die Bar übereilt. Diese spontane Entscheidung konnte ihn alles kosten. Er war nicht geübt darin, Beschattungen durchzuführen, besaß keine Genehmigung für die Nachtsperre und konnte nicht einmal sicher sagen, ob der Totenläufer von SDF-Soldaten geschützt wurde. Laut Plan sollte er in seine Wohnung zurückkehren und sofort Bericht erstatten. Keine Umschweife, keine Risiken. Und trotzdem, er musste mehr erfahren. Darin zeigte sich seine Schwäche. Wenn sich vor ihm ein Rätsel auftat, musste er es lösen, koste es, was es wolle.
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