ADHARANAND FINN
DER AUFSTIEG DER ULTRA LÄUFER
EINE REISE AN DIE GRENZEN DER MENSCHLICHEN AUSDAUER
Aus dem Englischen von Alison und Robert Flint Steiner
„Wir sollten unsere Grenzen immer weiter ausloten, damit wir mehr über uns erfahren.
Erkenne dich also selbst.“
Geoff Oliver, 85, nach 77 gelaufenen Meilen beim 24-Stunden-Laufbahnrennen von Tooting, Süd London
IMPRESSUM
Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
Adharanand Finn: The Rise of the Ultra Runners A Journey to the Edge of Human Endurance im Verlag Guardian Faber
Guardian Faber ist ein Imprint von Faber & Faber Ltd, Bloomsbury House,
74–77 Great Russell Street, London wc1b 3da
Alle Rechte vorbehalten.
© Adharanand Finn, 2019
Deutsche Erstausgabe
www.egoth.at
1. Auflage
© 2019 egoth Verlag GmbH
Untere Weißgerberstraße 63/12
1030 Wien
Redaktionsschluss: 8. August 2019
Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.
Übersetzung aus dem Englischen: Alison und Robert Flint Steiner
Fotos: Seite 375 CANOFOTOSPORTS / Lavaredo Ultra Trail 2018, Seite 383 -
Alle Rechte liegen bei den abgebildeten Personen, S. 397 [Nele Alder-Baerens]
Anton Schneid (Deutscher Gehörlosen Sportverband), S. 397 [Alexander Dautel]
Sofie Hovmand, S. 397 [Michael Sommer] Martin Rudolph, [Florian Reus] Nicole Reus
Texte des Epilogs: Seite 376
–392 Egon Theiner, Seite 393ff Dr. Annette Müller
Projektleitung: Sonja Franzke | vielseitig.co.at
Lektorat: Margot Bacher | korrigiermich.at
Grafische Innengestaltung: Clemens Toscani | clemens.toscani.at
Umschlaggestaltung: Clemens Toscani, unter Verwendung einer Illustration von Dan Mogford
Printed in the EU
Gesamtherstellung: egoth Verlag GmbH
ISBN (Print): 978-3-903183-18-6
ISBN (E-Book): 978-3-903183-71-1
Adharanand Finn: Der Aufstieg der Ultraläufer
Danksagungen
Der Autor
Epilog: Die deutschsprachige Ultraläufer-Szene
Der Rücken an einen Sandhügel gelehnt liege ich zusammengesackt am Boden und starre durch meine verschmierte gelbe Sonnenbrille. Sand soweit das Auge reicht. Sand mit ein paar Flecken vertrocknetem Gras dazwischen. Eine Wüste. Vage zeichnet sich ein Weg durch diese Einöde ab. Reifenspuren, die vermuten lassen, dass die nächste Zivilisation nicht mehr weit sein kann. Doch ich bewege mich nicht. Meine Beine fühlen sich an wie zwei rostige Maschinenteile, die ich schon seit Tagen mit mir herumschleppe. Es fühlt sich richtig gut an, sie endlich abzusetzen. Meine Leiste – dort wo der Vorderteil meines linken Beins an meinen Oberkörper grenzt – ächzt und wetzt bei jedem Schritt, doch jetzt, da ich endlich sitze, wird der Schmerz leichter, ja beinahe schon lustvoll.
Meine Gedanken scheinen sich bereits eigenständig gemacht zu haben. Mein Körper, mein physisches Wesen, sitzt hier und verschmilzt mit dem Sand, viel zu erschöpft, um zu denken. Aber die Wächter in meinem Kopf – diejenigen, die die Verantwortung für mein Überleben tragen – diskutieren fieberhaft miteinander.
Ich kann hier nicht den ganzen Tag rumsitzen. Mein Wasservorrat neigt sich dem Ende zu. Die Sonne ist zu heiß. Ich bin doch schon so weit gekommen. Denk an die Strecke, die du bereits zurückgelegt hast. Endlose Kilometer durch diesen höllischen Sand. Du kannst doch jetzt nicht einfach aufgeben. Bis zum Ziel, dem Strand, dem Meer, sind es nur mehr ein paar Kilometer. Du schaffst das. Komm, ein Schritt nach dem anderen. Du bist doch nicht den ganzen Weg bis hierhergekommen, um jetzt so knapp vor dem Ziel aufzugeben.
Ich erinnere mich nur mehr vage an all die Strategien, mit denen ich mich bis zuletzt auf den Beinen gehalten hatte. Am zweiten Tag, als es zum ersten Mal schwierig wurde, konnte ich mich anspornen. „Komm jetzt, du bist doch ein harter Kerl“, sagte ich mir da. „Du schaffst das. Zeig’s ihnen. Die Wüste mag zwar unerbittlich sein, aber einen Herrn Finn wird sie nicht stoppen.“ Ja, ich sprach wirklich von mir als Herr Finn. Das Rennen hatte bereits begonnen meinen Geist zu verdrehen.
Am fünften Tag wich das Draufgängertum dann dem Schmerz und ich tröstete mich durch die Nachtetappe. „Alles gut, mach dir keine Sorgen, du schaffst das. Es wird schon, lauf nur weiter.“ Die Nacht lag still und dunkel da. Der Sand unter meinen Füßen brutal tief. Aber ich schaffte es. Zweiundvierzig Kilometer in siebeneinhalb Stunden – doch ich kam ins Ziel.
Aber nun, so knapp vor dem Ende, war auch mein Wille völlig am Boden. Die Stimmen in meinem Kopf zwecklos. Ich bewege mich keinen Meter.
„Aufstehen und dich ins Ziel schleppen, das ist es, was du machen sollst. Aber warum? Wer hat denn diese dämlichen Regeln aufgestellt? Du brauchst da nicht mitspielen wie ein preisgekrönter Pudel.“ Das ist allerdings interessant. Ich rutsche etwas herum, damit das Gras nicht so sticht, strecke meine Beine aus und drücke meine Füße nach vorne. Meine Schuhe sind voller Sand, so, als ob sie drei Nummern zu klein wären. Das geht mir schon seit Tagen so. Eines der kleineren Übel im Gesamten betrachtet.
„Richtig mutig wäre es jetzt, auf dich selbst zu hören, und nicht auf die anderen“, meint der Genius in meinem Kopf. „Die anderen werden dir nur sagen, dass du das Rennen beenden musst, dass niemand so knapp vor dem Ziel aufgibt. Aber du, du bist anders als die anderen. Du spielst nach deinen eigenen Regeln. Du musst niemandem etwas beweisen. Wenn du aufhören willst, dann hör einfach auf.“ Regungslos hier herumzusitzen kommt mir vor, als wäre dies der höchste Akt der Rebellion. Ich werde zum James Dean des Wüstenultras. Es wird schon jemand kommen und mich finden. Sie werden zwar versuchen mich zu motivieren, das Rennen zu beenden, aber da spiele ich nicht mit. Ich werde es ihnen schon zeigen. Ich spiele nach meinen eigenen Regeln.
„He, Finn!“ Ich blicke auf. Ein älteres deutsches Paar um die sechzig steht vor mir. Ich weiß nicht genau, ob sie lächeln oder Grimassen schneiden.
„Alles in Ordnung?“, fragt mich Gudrun mit sanfter Stimme. Sie sieht ziemlich schockiert drein.
„Komm, steh auf“, bellt Hansmartin mich an. „Komm mit uns.“
Bevor ich es noch so richtig realisiert habe, hieve ich mich hoch und wir setzen uns im Gänsemarsch in Bewegung. Wieder durch den Sand watend, meine Leistengegend schmerzend. Die gesamte Ausrüstung, meine Kleidung, mein Rucksack, mein Kopftuch kleben an meinem verschwitzten Körper. Schon seit Tagen presst die Sonne jeden Tropfen Feuchtigkeit langsam aus meinem Körper und meinem Geist heraus, als wäre ich in einem Schraubstock gefangen. Aber jetzt stehe ich wieder und bewege mich, immer Hansmartins Fußstapfen folgend. Niemand sagt ein Wort. Die beiden sind fast genauso erschöpft wie ich, doch wir kämpfen uns weiter voran. Alles nur im Schritttempo, doch beide verwenden Walking-Stöcke und bewegen sich zielstrebig vorwärts. Ich starre auf Hansmartins Rucksack, der sich auf und ab bewegt, als er sich seinen Weg durch den Sand bahnt. Irgendwann beginnt sich mein Körper langsam zu erholen. Ich fühle ein leichtes Zucken in meinen Beinen. Mein Kopf wird wieder klarer. Unbewusst beginne ich zu traben.
„Ah, gut, gut“, sagt er. „Geh nur. Wir sehen dich dann im Ziel.“ Und mit diesen Worten beginne ich wieder zu laufen. Die Dünen wachsen nun langsam zu Bergen an; die höchsten Dünen des Rennens, aber ich kann das Meer fast schon riechen. Ich nehme meine Sonnenbrille ab und stecke sie in die Tasche. Der Sand ist weiß. Ich stapfe die hohen rutschigen Hänge hinauf und hüpfe und stolpere auf der anderen Seite wieder hinunter. Ich stelle mir vor, ich wäre ein Kind, das ganz aufgeregt zum Meer läuft.
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