Vor einer Rolltreppe, die noch tiefer in die Station hineinführte, blieb sie stehen. Was, wenn der Soldat gelogen hatte und sie direkt in seine Falle lief? Das ergab mehr Sinn als die Vorstellung, dass er sie tatsächlich hatte davonkommen lassen. Soldaten wollten ihresgleichen tot sehen. Eine andere Option gab es nicht. Ihre Haut begann zu jucken. An den Armen, an den Beinen, am Rücken, einfach überall. Sie kratzte unwillkürlich an den Stellen, aber es half nicht. Es half niemals.
»Was willst du hier?« Die laute Stimme eines Mannes drang an ihr Ohr und sie fuhr zusammen. Augenblicklich sah sie die Rolltreppe hinunter und von dort unten blickte ihr ein Mann in aschegrauer Kleidung, Stoffhose und Schutzweste entgegen. Er trug ein schwarzes Tuch, auf dem in orangen Lettern REKA stand. In den Händen hielt er eine Maschinenpistole, die er auf sie richtete.
»Ich … bin … ein Lorca.« Ihre Stimme wurde von den Wänden nach unten geworfen. Ein lautes Echo in der menschenleeren U-Bahnstation. »Und ich suche Schutz.«
»Ein Lorca?«, fragte der Mann. »Hier ist seit Monaten kein Lorca mehr aufgetaucht.«
»Ich … bin einer«, rief sie ihm zu und dachte bei sich, dass er es doch sehen musste.
»Ich komme die Treppe hoch und du bewegst dich nicht vom Fleck, okay?«
»Ja«, sagte sie und wartete, bis er neben ihr stand. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht, ihren Körper, von oben nach unten und blieb letztendlich bei den Augen hängen. Innerlich zerfraß sie eine brennende Unruhe, weshalb sie die Hände zu Fäusten ballte und fest zusammendrückte.
»Tatsache«, murmelte er und legte seinen Finger auf ein Nanofunkgerät in seinem Ohr.
»Wir haben in Gang neun einen Lorca«, funkte er. »Soll ich ihn zum Kaninchenbau bringen?« Pause. »Nein, ich täusche mich ganz sicher nicht. Okay. Ja, verstehe.« Dann nahm er den Finger herunter und lächelte ihr aufmunternd zu.
»Du hast es geschafft. Wir kümmern uns jetzt um dich. Du bist sicher.« Aus seinen Worten sprach ehrliche Zuversicht und sie stand ihm gut zu Gesicht, doch Rina hörte diesen Satz nicht zum ersten Mal. Viktor hatte es gesagt, und zwei Menschen in einer weit entfernteren Vergangenheit, genauso wie der Junge von damals, kurz bevor sie zum ersten Mal Red-Mon-Stadt betreten hatte.
»Jemand wie ich ist niemals sicher«, sagte sie deshalb und ihr Mund wurde trocken.
X
Sie lebte. Es war nicht zu leugnen. Irgendwo in ihrem Kopf kreischte eine Stimme, dass es nicht fair war, doch sie hörte nicht hin. Was war schon fair in einer Stadt, in der die Farbe deiner Haut und Augen entschied, ob du sterben musstest oder nicht.
Der Rebell führte sie durch einen der U-Bahntunnel. Es war stockfinster und Rina hatte Mühe, ihm zu folgen. Immer wieder stolperte sie über ihre Füße und glaubte, vor Erschöpfung zusammenbrechen zu müssen. Ein Zittern hatte sich in ihren Körper geschlichen wie ein Virus. Der Rebell hingegen redete unentwegt. Er sagte, dass der Unterschlupf der REKA einem Kaninchenbau glich. Überall Tunnel mit zahllosen Ausgängen. Südmarkt sei schon seit Monaten von ihnen besetzt, doch die Stadtverwaltung vertuschte diese Tatsache. Sie sprach von einem Erdrutsch, obwohl es nie einen gegeben hatte.
Rina konnte sich nur schwer auf seine Worte konzentrieren. Die Realität begann an ihr abzuperlen wie Wasser an Folie. Ein stetes Rauschen hastete durch ihren Kopf und sie meinte, unter einer Kuppel zu sein. Alles war seltsam trüb und dumpf. Schritte trieben vor ihr her. Zwischendurch roch es nach Erde und feuchtem Untergrund. Es wurde hell und weißes Deckenlicht brannte in ihren Augen. Lippen bewegten sich. Eine Leibesvisitation schloss sich an. Sie wehrte sich nicht. Lief von hier nach dort. Etwas Weiches wurde ihr um die Schultern gelegt. Bleierne Stille hüllte sie ein und etwas fiel von ihr ab, landete auf dem Boden und sickerte in den Grund. Sie sank in sich zusammen, fühlte sich plötzlich winzig und bedeutungslos.
Niemand blieb für ewig. Nichts war für die Unendlichkeit bestimmt, denn eine Linie hatte stets ein Ende. Alles andere war paradox. Endlichkeit machte das Leben erst lebenswert, hatte mal jemand gesagt. Nicht irgendjemand. Viktor. Es war sein Motto. Trotz all der Entbehrungen blickte er stets optimistisch in die Zukunft.
»Im kalten Sturm wird Blut vergossen«, flüsterte Rina, ohne sich dessen bewusst zu sein. Schreie klopften an eine verschlossene Tür. Tropfen von Rot und ein tiefdunkler Hass vermischten sich, wurden zu einer Bedrohung, die hinter einem blickdichten Vorhang auf sie lauerte und das Ende vieler Linien zeichnete.
Jemand schnipste und Rina erwachte.
»Ich sagte doch, sie hat einen Schock.«
Als sie aufsah, stand ihr gegenüber eine Frau mit kurzen, fuchsroten Haaren. REKA stand auf einem Tuch, das sie um ihren Arm gewickelt hatte. Rebellen. Richtig. Sie war nicht mehr in der Wohnung. Sie war an einem fremden Ort mit fremden Menschen.
»Bist du jetzt endlich wach?«, fragte ein Mann, der schräg neben ihr auf einem Stuhl saß. Unter seinem linken Auge prangte das Tattoo eines Adlers im Sturzflug. Waren Tattoos nicht verboten?
»Sie braucht ein Bett, eine Dusche und Ruhe. Wir können auch morgen mit ihr reden.«
»Morgen ist zu spät. Wir halten uns an die Routinen«, wandte der Mann ein und die Frau verschränkte die Arme vor der Brust und warf Rina einen entschuldigenden Blick zu. »Also, Sweetie, plaudern wir doch mal ein bisschen. Was verschlägt dich zum Südmarkt?«
»Ich will nicht reden«, sagte Rina aus einem inneren Impuls heraus. Dieser Mann kam ihr falsch vor wie eine Schlange. Lässig saß er da, musterte sie unverhohlen aufdringlich und sprach in einem Ton, der verdeutlichte, dass er allein entschied, was als Nächstes geschah.
»Was du willst oder nicht willst, interessiert mich nicht. Du hast nachher noch genügend Zeit zum Alleinsein. Wir wechseln jetzt ein paar Worte miteinander und alles wird gut. Glaub mir, so ein Gespräch wirkt Wunder.« Bitterer Sarkasmus. Sie erkannte es daran, wie er »glaub mir« betonte. Einen Hauch zu selbstgefällig.
Rina sammelte sich. Erst jetzt bemerkte sie die weiche Decke über ihren Schultern. Die Rebellen mussten sie ihr bei der Ankunft gegeben haben. Ein Symbol ihrer falschen Gutmütigkeit. Sie zog die Decke herunter und legte sie neben sich ab. Mit solch einer albernen Geste würde sie sich nicht auf ihre Seite ziehen lassen.
Ihr entging nicht, dass die Frau verwundert die Stirn runzelte.
»Dann reden wir«, meinte sie und zwang sich, ihrer Stimme eine kräftige Note zu geben.
»Schön, dass wir das geklärt haben. Beginnen wir beim Standard, bevor wir zu den Details kommen. Wer bist du, woher kommst du und wie zum Teufel hast du es hierher geschafft?«
»Mein Name ist Rina Morita, ich hatte eine Nutzversicherung als Transporteurin, komme aus dem Wohnviertel von Westend und habe dort mit acht Lorca gelebt. Ein Mann namens Viktor hat uns versteckt. Vor einem Tag …« War es wirklich erst einen Tag her? »… hat uns die SDF entdeckt und ich bin geflohen. Am Stadtrand entlang bis zum Sichelturm und dann weiter zum Südmarkt.«
»Geflohen also. Und wie hast du das angestellt? Die SDF hat bei solchen Einsätzen eine Erfolgsquote von, lass mich lügen, hundert Prozent.«
»Ich war schnell.«
»Du warst schnell?«
»Ja.«
»Wie muss ich mir das vorstellen? Du bist in einer Wohnung, die SDF stürmt sie und du kannst einfach durch die Vordertür fliehen?«
»Durch das Fenster. Ich bin durch das Fenster, dann eine Etage nach unten geklettert, habe dort die Scheibe eingetreten und bin weggelaufen.«
»Und die Leute in der Wohnung darunter?«
»Es war niemand da.«
»Dann muss die Wohnungstür verschlossen gewesen sein.«
»War sie nicht.«
Der Mann schnalzte mit der Zunge.
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