»Das nenne ich ja mal Glück. Und von der SDF hat das niemand bemerkt?«
Rina dachte an den Soldaten und seine unglaublichen Worte im Regen. Sie antwortete nicht.
»Okay, anderes Thema. Vorhin hast du einen Satz gesagt. Erinnerst du dich noch daran?«
Der Satz, stimmt, sie hatte ihn ausgesprochen, dabei war das nicht nötig gewesen. Die Rebellen nahmen jeden Lorca auf. Zumindest waren das die Gerüchte.
»Rina, du brauchst vor uns keine Angst haben. Niemand wird dir etwas tun.« Nun sprach wieder die Frau. »Es ist nur so, dass nur ein paar Mitglieder diesen Satz überhaupt kennen. Er ist ein gut gehütetes Geheimnis und wir müssen wissen, woher du ihn kennst.«
Sie spürte, wie sich ein Knoten um ihre Kehle schnürte. Nur ausgewählte Mitglieder. Ein Geheimnis. Aber er war doch Soldat und hatte nichts mit der REKA zu tun.
»Hat ihn dir der Mann gesagt, der dich versteckt hat?«
Viktor? Nein, er war tot. War vor ihren Augen auf die Knie gesunken und zwischen seine grauen Haare hatte sich Blut gemischt.
»Viktor war das nicht.« Sie musste den Knoten um ihre Kehle nur lösen und die Worte aussprechen. So schwer war es nicht. Vier Worte. Nur vier Worte. »Es war ein SDF-Soldat.«
Ungläubiges Schweigen dehnte sich aus.
»Ein SDF-Soldat?«, fragte die Frau.
»Ja, es war einer von denen. Er hat die anderen umgebracht. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Trotzdem hat er mich laufen lassen.« Welch Ironie des Schicksals.
»Und da bist du dir hundertprozentig sicher?«
»Das bin ich. Er hat mir auch gesagt, dass ich zum Südmarkt muss.«
Der Mann pfiff durch die Zähne und lehnte sich im Stuhl zurück.
»Das ist ja mal eine Aneinanderreihung von Zufällen.«
»Zufälle? Ich dachte, du bist der Letzte, der an so etwas glaubt?«
»Ich hab ja auch nicht gesagt, dass ich daran glaube.« Erneut betrachtete er Rina und schien ihre Miene deuten zu wollen. Hitze stieg in ihr auf. Unterstellte er ihr etwa, dass sie log?
»Ich lüge nicht«, sagte sie.
»Auch das habe ich nicht behauptet«, meinte er nur und fuhr sich mit den Fingern über das Kinn. »Wir haben kein Leck. So viel steht fest. Jedes unserer Mitglieder ist loyal.«
Rina sah auf die Hände in ihrem Schoß. Die Haut war rau und an einigen Stellen aufgeschürft.
»Er hat sie umgebracht«, murmelte sie. »Ich habe gesehen, wie er die Waffe auf sie gerichtet und abgedrückt hat. Emotionslos und gradlinig. Ohne ein kurzes Zögern. Er war der Erste in der Wohnung und der Einzige, der mich gesehen hat.«
Ein Soldat. Ein Mörder. Es war ihr zuwider. Die Frau legte eine Hand auf Rinas Arm, doch sie zuckte sofort zurück. Distanz. Sie brauchte Distanz. Wollte einfach nur ihre Ruhe, damit sie einen klaren Kopf bekommen konnte.
»Du kannst uns vertrauen. Wir werden dir nichts tun.« Vertrauen. Was bedeutete dieses Wort? Sie konnte sich nicht daran erinnern.
»Wieso hat er mich laufen lassen?«
Rina sah die Frau an, als könne sie ihr eine Antwort geben. Doch der Einzige, der diese Frage beantworten konnte, war der Soldat selbst.
»Ich weiß, es ist schwer, aber versuch dich noch einmal zu konzentrieren. Der Soldat, hattest du den Eindruck, dass er dich hinters Licht führen wollte?«
»Wieso sollte er das tun?«
»Um herauszufinden, wo wir unser Versteck haben. Die Stadtverwaltung weiß, dass wir am Südmarkt sind, aber nicht, wo unser Zugang ist. Das U-Bahnnetz ist weit verzweigt und nicht beleuchtet. Sie riskieren keinen SDF-Einsatz, wenn sie nicht genau wissen, an welcher Stelle ihr Ziel liegt. Also, hattest du den Eindruck, dass er dich laufen lassen hat, um dir später zu folgen?«
»Nein«, antwortete sie sofort. »Er, er hat mich nicht benutzt.« Dabei war sie sich in Wirklichkeit gar nicht sicher. Sie war gut darin, an dem Gesicht und den Bewegungen eines Menschen zu erkennen, ob er eine Bedrohung war oder nicht, und sie täuschte sich nie. Der Soldat jedoch war widersinnig gewesen, so als kämpften in ihm zwei gegensätzliche Pole miteinander, aber doch nicht, weil er sie betrügen wollte. Das konnte nicht sein.
»Wie gesagt, Caren, wir haben kein Leck«, wiederholte der Mann, woraufhin die Frau entnervt seufzte.
»Dein Vertrauen in allen Ehren Jay, aber es ist eine Möglichkeit, die wir nicht außer Acht lassen dürfen. Wir sollten zumindest überprüfen, ob vor unserer Tür jemand lauert oder Rina verwanzt ist.«
»Meinetwegen. Aber ich garantiere dir, wir werden nichts finden. Wenn du einen Moment scharf nachdenkst, weißt du, wer ihr den Satz gesagt hat.«
Die Frau fixierte ihn, dann drängte sich ihr eine Erkenntnis auf.
»Niemals. Das ist absolut unmöglich. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Tom …«
»… was? Dass er zu so etwas nicht fähig ist? Unterschätz ihn nicht. Er ist alles andere als nur ein guter Schauspieler. Es passt zu ihm. Es passt wie die Faust aufs Auge. Aber gut, schauen wir erstmal, ob du Recht hast. Der Sicherheitscheck ist vorhin ja schon gelaufen, also bringst du sie am besten ins Technikzimmer.«
Der Mann stand auf, zog aus seiner Tasche eine Schachtel Zigaretten, klopfte eine heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen. Als er weitersprach, nuschelte er.
»Caren ist deine direkte Ansprechpartnerin und mich wirst du hoffentlich nicht allzu oft sehen«, sagte er, holte eine Streichholzschachtel hervor und zündete sich die Zigarette an. »Ich bin immer ein schlechtes Omen.«
Er schüttelte das Streichholz aus, zog einmal an der Zigarette und verließ das Zimmer ohne ein weiteres Wort.
»Was hat er gemeint?«, fragte Rina und die Frau stemmte die Arme in die Seite.
»Er denkt, es war einer von uns, der seit ein paar Monaten bei der SDF ist, um Informationen zu sammeln. Ein Schleuser. An sich ist er nicht zuständig für Einsätze gegen Lorca, aber es könnte sein, dass sie ihn dazu abkommandiert haben.« Sie machte eine kurze Pause und fügte hinzu: »Wenn das so ist, tut es mir sehr leid.«
Unweigerlich kehrten ihre Gedanken zurück zu dem Soldaten. Er war also ein Schleuser der Rebellen. Jemand, der glaubte, die richtigen Dinge zu tun, obwohl er das Leben ihrer Freunde gestohlen hatte. Für sie war er nicht mehr als ein Heuchler.
Kapitel 2
Tom hatte alles perfekt geplant. Der Köder war so gut wie fertig, neben ihm der Barhocker frei und er selbst darauf eingestellt, sich an jede erdenkliche Situation anzupassen. Er war bereit, sein Täuschungsmanöver auszuführen. Es fehlte nur noch seine Zielperson, die laut Informant pünktlich nach Einsetzen der Nachtsperre auftauchen sollte.
Der Barmann in der verqualmten Kneipe Hintertüren schenkte einem Kerl Klaren ins Glas, den dieser sofort runterspülte. Die beiden unterhielten sich seit einigen Minuten über die Ungerechtigkeit von vorgegebenen Pflichten in Red-Mon-Stadt. Dabei berichtete der Betrunkene lallend von seinem Job auf den Gemüseinseln außerhalb der Stadt. Es ginge da nicht um echte Landwirtschaft, sondern einzig und allein um Zahlen. Luftfeuchtigkeit, Temperaturschwankungen, Wachstumsrate, Röte von Tomaten. Alles musste ständig geprüft werden, da sonst das Essen der Stadtbewohner einging.
»Eine sowas von langweilige Aufgabe«, lamentierte er und fügte hinzu, dass sein Antrag auf Änderung seines Nutzens mit einer fadenscheinigen Begründung abgelehnt worden war.
»Würd’ lieber hier in dem Schuppen arbeiten«, sagte er, »aber das kann sich ja keiner aussuchen.«
Die Spitze von Toms Kugelschreiber flog über das Papier, während er zuhörte. Seine Zeichnung war ihm heute nicht recht gelungen, aber sie erfüllte ihren Zweck. Eine künstlerische Meisterleistung konnte von ihm eh niemand mehr erwarten. Er war übermüdet und hatte seit Tagen nicht richtig geschlafen, da er entweder seinem Scheinjob nachging oder als Spitzel agierte. Konzentrationsmangel war da nur eine von vielen unangenehmen Begleiterscheinungen. Nicht die besten Voraussetzungen für einen Offensivschlag, aber er würde das Beste daraus machen.
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