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Die Hamburgerküche ist gleich um die Ecke, aber ich entscheide mich für White Spot, eine Viertelstunde stadteinwärts. Sollte ich vor Entkräftung niedersinken, kann Sally mich gleich an der Notaufnahme des Krankenhauses abliefern, das liegt direkt an unserem Weg. Wenn ich aber überlebe, können wir Harry im Rucksack mit uns nehmen und im Restaurant unter dem Tisch verstecken. Das Mittagsgeschäft ist schon vorbei, und die Chancen sind gut, dass wir den Tisch in der hinteren Ecke bekommen. Mit etwas Glück werden wir dann auch noch von Helga bedient, die Harry nicht als vollen Hund betrachtet und ihn gegen alle Vorschriften einfach ignoriert. "Ein Wasserl fürs Hunderl", wie wir es bei unserem Besuch in München hatten, gibt es aber mit Sicherheit nicht.
"Was mir immer noch im Kopf zu schaffen macht", sagt Sally, "das ist, dass du heute um fünf Uhr nachmittags von Schanghai abgeflogen bist, und jetzt ist es hier erst drei. Bist du jetzt tatsächlich mehrere Stunden jünger geworden?"
"Wie taktlos von dir, sieht man mir das nicht an? – Harry, sei ruhig, sonst setzt uns der Manager vor die Tür."
Harry ist unser kleiner, weißer Terrier. Er war eines Tages einfach da, direkt aus dem Hundewaisenhaus. Mein Freund David, der für einen Tierschutzverein arbeitet, ließ in bei mir zu Hause bitte nur für ein paar Stunden , weil er eine wichtige Besprechung hatte und der kleine, noch nicht einmal stubenreine Hund dabei gestört hätte. Die Besprechung muss sehr erfolgreich gewesen sein, denn David vergaß in seiner Euphorie, Harry wieder abzuholen. Erst nach einigen Wochen rief er an und fragte scheinheilig, ob er den Kleinen jetzt zurücknehmen sollte. Ich habe den Hörer auf die Gabel geknallt, oder was man mit einem Telefon heutzutage eben macht. Mit David habe ich kein Wort mehr gesprochen, wenigstens für eine kleine Weile. Schließlich waren Harry und ich längst Freunde geworden, und als dann auch noch Sally zu uns stieß, wurden wir ein unzertrennliches und unschlagbares Trio. Gemeinsam überlebten wir Schuttlawinen, heranrasende UBahnen und was sonst böse Menschen sich noch ausdachten, um uns aus dem Wege zu schaffen. Dabei interessieren wir uns für nichts weniger als die Verbrechen dieser Welt, auch wenn wir schon einige Male in sie hineingeraten waren, wie in einen unverhofften Platzregen. Nun, damit ist Gott sei Dank Schluss, wir können uns wieder unserer Fotoarbeit, den Büchern, Blogs, Vorlesungen widmen und sorglos im Restaurant zu Nachmittag essen.
Die Spezialität des Tages ist ein Currygericht, aber ich habe fürs erste genug von Kleingeschnittenem mit Reis. "Lieber ein T-BONE-STEAK, Helga, beinahe durch, mit zwei gebackenen Kartoffeln und dem Üblichen dazu. Und danach vielleicht noch das Cordon Bleu, aber das entscheiden wir später." So sehr habe ich mich in diesen letzten Jahren an einheimische Gepflogenheiten gewöhnt, dass ich Kaffee als Getränk bestelle. Der ist auch nicht schlechter oder stärker als der grüne Tee, den ich die ganze Woche getrunken habe, und man bekommt so oft nachgeschenkt, wie man möchte. Sally begnügt sich mit einem Caesars Salad, dem faden Standardgericht für Figurbewusste. Harry bekommt in diesem Etablissement nichts, und er kennt das auch und protestiert nicht. Er ist vor allem froh, dass wir alle wieder beisammen sind.
In China hatte ich keine Zeit, mich auf dem Laufenden zu halten. Sally füllt die Lücken mit wenigen Sätzen. Das Wetter war schlecht, es hat pausenlos geregnet. Wie fast immer. Einer der zahllosen Minister (Kanada hat davon mehr als alle anderen G8-Länder zusammen genommen) ist in einem Nachtclub mit einer unbekannten und daher zweifellos zweifelhaften Dame gesichtet worden. Die Baufirma des olympischen Dorfes ist pleite, und die Stadt Vancouver muss all die Wohnungen auf eigene Kosten zu Ende bauen, was auch sie in den Bankrott treiben wird.
Mein Hunger war wohl eher eingebildet, denn nach der zweiten Ofenkartoffel mit Sauerrahm und Gartenkräutern verspüre ich keine Lust mehr auf ein weiteres Steak oder gar das Cordon Bleu. Aber irgend ein kleiner Nachtisch hat noch Platz, und eine dritte Tasse Kaffee. Da klingelt Sallys Handy. Ein paar schlichte Töne, die zu einer bekannten Melodie gehören, aber ich kann sie nicht einordnen.
"Hallo. – Gut, natürlich. Schön dich zu hören. Und dir? – O, das tut mir aber leid. – Der sitzt mir genau gegenüber. Warte, ich geb' ihn dir, tschüs! – Phil", sagt sie zu mir und streckt mir das verflixte Gerät entgegen.
Das Mobiltelefon ist eine Errungenschaft, der ich mich standhaft verweigere. Nichts auf der Welt kann so dringend sein, dass man mich deswegen auf der Stelle, in dieser Minute erreichen müsste, egal wie ich mich gerade fühle, wo ich mich gerade aufhalte, womit ich mich gerade beschäftige. Ich besitze keins, und ich lasse mich nur in seltenen Ausnahmefällen bewegen, eins zu benutzen. Inspektor Philip Marlowe ist ein guter Freund, aber nicht so gut, dass ich mit ihm über Handy sprechen müsste.
"Hallo, Phil, wir sitzen gerade im Restaurant. Ich ruf dich zurück, wenn wir daheim sind."
Er kennt meine Aversion und macht es kurz. Er kommt später bei uns vorbei, bringt Essen vom Chinesen mit, würde uns das passen? Sally nickt zustimmend. Also dann, sieben oder so, gleich nach der Arbeit.
Helga bekommt ein besonders gutes Trinkgeld, wegen der zweiten Kartoffel und des vielen nachgeschenkten Kaffees, und entfernt sich diskret, damit Harry unter dem Tisch wieder in den Rucksack kriechen kann. Sally fährt, und ich bin jetzt wach genug, ihr noch den letzten Tag in Schanghai zu beschreiben. Die Abenteuer davor, die Diskussionen, Missverständnisse, freundschaftlichen, opulenten Parties mit Essstäbchen und viel westlichem Alkohol, haben wir jeden Tag ausführlich am Telefon besprochen.
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Es war eine intensive Arbeitswoche, pausenlose Gespräche mit Textern und Layoutern, Fotografen und Übersetzern, Managern und Leuten, deren Funktion mir die ganze Zeit unklar geblieben ist. Sally und ich haben mit unserem Buch einen globalen Bestseller geschaffen, und auch ein chinesischer Verlag wollte es nachdrucken. Für unseren Verleger und Freund, Robert "Robbie" Williams, ist das ein unverhoffter Glückstreffer, mit dem er seine dümpelnde Firma für lange Zeit wird über Wasser halten können.
Was eigentlich ein Fotoband über die Fußball-Weltmeisterschaft und die Deutschen im Sommer 2006 werden sollte, hatte sich fast ohne unser Zutun zu einem Krimi in Bildern entwickelt, in dem die Planung und der Fehlschlag eines unvorstellbar blutigen Anschlags von alQaida beschrieben und dokumentiert wird. In dem Stadion, wo das Endspiel stattfinden sollte, waren während der Renovierungsarbeiten Hunderte Bauelemente durch Blöcke aus Semtex oder sonst irgendeinem Sprengstoff ersetzt worden, alle raffiniert verdrahtet. Durch einen einzigen Anruf vom Mobiltelefon wollte der Attentäter sich selbst in die Luft jagen und dabei siebzigtausend Zuschauer, zweiundzwanzig Fußballer und mehrere Staatsoberhäupter mit auf die Reise nehmen. Harry hatte den Zündmechanismus in letzter Sekunde erschnüffelt, unten auf dem Rasen schnappten die "Blauen" aus Italien den "Blauen" aus Frankreich den Titel vor der Nase weg, und alle erfuhren erst aus der Zeitung, dass sie ohne unseren klugen Hund das Spiel nie zu Ende gebracht hätten.
Auch in China wollte man dieses Buch herausbringen, mit einigen Veränderungen, da die chinesische Nationalmannschaft keinen großen Auftritt in Deutschland bekam, aber immerhin an den Qualifikationsspielen teilgenommen hatte. Der Goldener-Drachen-Verlag hatte ganz offiziell die Rechte erworben, um an die Originalfotos heranzukommen. In China druckt man heutzutage keine Raubkopien mehr! Oder wenigstens nicht mehr so oft. Geplant ist eine Startauflage von 100.000, das wirft auch für uns ein recht angenehmes Honorar ab. Harry, der eigentliche Held der Geschichte, hat von all dem nichts, abgesehen von seinem Porträt auf zahlreichen Titelseiten und vielen zusätzlichen Streicheleinheiten
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