Er wandte sich wieder angespannt dem Geschehen am Tisch zu und bemerkte, dass das Glas des anderen jetzt etwas anders stand. Er lächelte. Vermutlich hatte der Mann daran gerochen und ihn für gut befunden. Getrunken hatte er jedenfalls noch nicht. Der Füllstand des Glases war unverändert. Wahrscheinlich war der Mann etwas verwundert, warum sein Glas auf einmal wieder voll war. Aber wie das so war, einem geschenkten Gaul schaute man nicht ins Maul. Er war aufgeregt und überlegte, wie er den Mann dazu bringen könnte zu trinken. Vielleicht sollte er ihn mit seinem Glas in der Hand auffordern anzustoßen, als sich die Frage erübrigte. Der Mann griff zum Glas, schnupperte nochmal kurz daran, mit seligem Lächeln leckte er sich die Lippen und nahm einen großen Schluck.
Sein Feind hatte endlich getrunken. Zufrieden lehnte sich der Mann zurück. Er griff sein Whiskyglas und in seiner Euphorie trank er es in einem Zug aus. Jetzt hieß es, bei einem Bier abzuwarten, bis sich bei dem Kerl die ersten Symptome zeigten. Es dürfte nicht mehr lange dauern. Zur Not musste er eben nochmal nachschenken. Stefan war unauffällig herangetreten und stellte das Bier vor ihm ab. Er hatte ein ›Dead Pony‹, ein Pale Ale, bestellt. Er griff danach und nahm einen wohlverdienten ersten Schluck. Aus den Boxen ertönte Musik. Uwe hatte eine Bluesscheibe eingelegt. Zur Abwechslung mal nicht Pink Floyd, dachte er und nahm den nächsten großen Schluck vom Bier.
***
Egbert Pabst hatte das Gefühl, Arme und Beine waren eingeschlafen. Sie kribbelten, als er sie bewegte. Das Kribbeln wurde stärker. Unsicher sah er auf seinen Arm. Er hatte schon mal dieses Gefühl gehabt, als er allergisch auf eine Medizin reagiert hatte. Es war Jahre her. Rote Pusteln hatten sich damals auf seinem Arm gezeigt. Aber es war nichts zu sehen. Plötzlich wurde ihm kalt. Er fing an, schwer zu atmen. Er bekam Panik und riss die Augen auf. Das Kribbeln wurde unerträglich. Es war, als würden ihn tausende von Ameisen überrennen. Seine Gliedmaßen fühlten sich an wie gelähmt. Plötzlich wurde ihm schwindlig und er übergab sich. Erschrocken sprangen seine Sitznachbarn auf. Säuerlicher Geruch stieg vom Tisch auf.
Ein kleiner, älterer Mann, ohne erkennbaren Hals und mit rundem Kopf, der am Nebentisch eingeschlafen war, wurde durch den Lärm wach, sah kurz auf und sagte kichernd: »Ähem, so einen Whisky hatte ich auch schonmal im Glas.« Dann fiel sein Kopf wieder nach vorn und er schlief weiter.
Egbert Pabst wollte aufstehen. Die Beine gehorchten nicht und er stürzte zu Boden, dabei riss er ein paar Gläser um. Er nahm noch wahr, wie die anderen ihn erstaunt anstarrten, während seine Schmerzen unerträglich wurden. Die Ameisen fraßen ihn auf. Er bekam keine Luft mehr. Sein Darm entleerte sich. Das Letzte, was er trotz des Ohrensausens hörte, war, wie jemand rief: »Wir brauchen einen Notarzt. Schnell« und das stampfende ›Boom Boom Boom‹ von John Lee Hooker.
Koslowski war aufgesprungen. Der Mann, der neben Egbert Pabst kniete, sah zu ihm hin und schüttelte den Kopf. »Wir brauchen keinen Notarzt mehr. Er ist tot.«
Einer der Gäste hatte mit seinem Handy schon den Notruf gewählt und rief: »Der Krankenwagen ist unterwegs.«
R.R sah sich um. Alle Gäste standen, bis auf zwei, die sich scheinbar durch nichts aus der Ruhe bringen ließen, und den komischen alten Mann. Den Bremer konnte er nicht entdecken. Er war weg. Er fragte sich, wann er gegangen war. Hatte der etwas mit dem Anschlag zu tun? Er hatte in der Nähe gesessen, nur zwei Plätze weiter. Und dass es ein Anschlag war, stand für R.R. außer Frage. Nur wem hatte der gegolten? Wenn es der Bremer gewesen war, wirklich dem Toten? Oder ihm? Wenn er das eigentliche Ziel gewesen war, was war da zu seinem Glück schiefgelaufen? Er musste hier weg. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Langsam tastete er sich in Richtung Ausgang. Seine Tischnachbarn achteten nicht auf ihn, da sie immer noch fassungslos auf die Leiche starrten. Am Ausgang angekommen, sah er sich noch einmal um. Noch immer nahm keiner Notiz von ihm. Er schob den schweren Vorhang beiseite und verschwand.
Koslowski fasste sich. Sah in die Runde und sagte laut: »Keiner rührt was an. Alle bleiben auf ihren Plätzen. Keiner verlässt den Pub.«
»Warum?«, fragte Lars, einer der Gäste. Koslowski sah ihn entgeistert an. Er kannte ihn. Lars hatte wie immer ein graues Hemd an, was etwas über den kleinen Bauch spannte. Seine Hand klammerte sich um eine Flasche Single Malt Whisky, als hätte er Angst, die wieder hergeben zu müssen.
Koslowski runzelte leicht genervt die Stirn. »Weil es nicht so aussieht, als wäre es nur ein Herzanfall gewesen.«
Er wandte sich an Uwe, der immer noch mit Stefan hinter dem Tresen stand. »Schließ den Laden ab, Uwe. Keiner kommt hier rein oder raus. Alles bleibt so stehen, wie es jetzt ist.«
»Es war also kein natürlicher Tod?«, fragte Lars nochmal nach. Es folgte Stille. Koslowski fiel jetzt auf, dass Uwe die Musik abgedreht hatte. Er nickte stumm. Dann sah er fragend in die fassungslosen Gesichter. »Ich nehme an, ein paar von euch kannten ihn.«
Einige der Versammelten sahen sich unsicher an. Da sagte der halslose Mann, der nun endgültig wach zu sein schien: »Ähem, ja. Das ist Egbert, äääh Egbert Pabst.« Aus irgendeinem Grund kicherte er wieder.
Koslowski griff zum Handy. Er wählte Meyerbrincks Nummer.
»Tom, du musst herkommen.«
»Wohin denn?«
»In den Pub.«
»Vergiss es Sal, ich spiel nicht das Taxi für dich«, protestierte Meyerbrinck verärgert. »Dafür hast du mich um diese Zeit angerufen? Du kannst mich mal...«
»Hör zu, Tom«, unterbrach Koslowski Meyerbrincks Redefluss ungeduldig. »Es gab hier einen Toten. Ich brauch die Spurensicherung und unser Team hier.« Er konnte hören, wie Tom Meyerbrinck tief Luft holte.
»Ach du Scheiße. Ich weiß aber nicht, wen ich von unseren Leuten heute Abend um diese Zeit noch erreiche.«
»Komm einfach. Ich werd ja merken, wen du erwischt hast. Und schick uns einen Streifenwagen vorbei. Ich will, dass die vor dem Pub den Bürgersteig sichern. Also, volles Programm.«
Koslowski beendete das Gespräch und aktivierte die Fotofunktion seines Handys. Dann begann er, Fotos zu schießen. Sowohl von den Tischen, den Leuten, wie und wo sie gesessen hatten und von der Leiche. Die anderen Gäste beobachteten ihn stumm dabei.
Erst da bemerkte er das Fehlen von R.R.. Er runzelte die Stirn. Verdammter Mist, dachte er verärgert. Was hatte sich Roger dabei gedacht. Egal, jetzt musste er erstmal seinen Chef Van Bergen anrufen und berichten. Er hatte es ganz vergessen. Der wird nicht begeistert sein.
Van Bergen legte nachdenklich sein Smartphone auf den Tisch. Die hohe Stirn in Falten gezogen, starrte er auf das Regal, in dem die Whiskyflaschen mit den von Ben Gash entworfenen Labeln standen. Eine hatten sie heute geöffnet. Sie stand auf dem Tisch.
Die anderen Mitglieder des ›Inner Circle‹, wie sie ihre monatliche Runde getauft hatten, sahen ihn neugierig an. Sie hatten kaum etwas von dem Telefonat mitbekommen. Van Bergens Beitrag zu dem Telefongespräch hatte sich auf ein ›hmm‹ und ›aha‹ beschränkt. Trotzdem hatten sie jetzt das sichere Gefühl, der angenehme Teil des Abends wäre vorbei.
Van Bergen sah sie an. »Ihr kennt euch doch gut aus in der Whiskyszene. Kennt ihr einen gewissen Egbert Pabst?«
Keiner antwortete.
»Er ist tot. Gerade in einem Pub zusammengebrochen. Im Union Jack.«
In Markus Rosanowskis Gesicht zeigte sich Fassungslosigkeit. Nervös strich er sich über das glatte, grauweiße Haar. Simone, seine Verlobte, riss erschrocken die Augen auf. Jens Peter sah Van Bergen misstrauisch an, er vermutete einen schlechten Scherz.
»Am Bier kann es nicht gelegen haben. Die haben dort ordentliches Bier«, versuchte Jonas Schönfelder die Stimmung aufzulockern. Er war der jüngste in der Runde. Van Bergen zog nur die Augenbraue hoch. Er fand es nicht komisch.
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