R.R. sah zur Uhr. Sie zeigte Punkt 11. Zeit für ein Glas Wein, dachte er, und einen Blick in die Tageszeitung. Die Todesanzeigen waren dabei für ihn von besonderem Interesse. Er kaufte die Zeitung immer in dem kleinen Lottoladen an der Ecke. Jetzt lag sie auf seinem Schreibtisch. Er schmunzelte still vor sich hin, weil er wegen der Uhrzeit und seinem Wein an Koslowski denken musste. Genauer gesagt, an dessen Spruch, wenn es um seinen notorischen Bierdurst ging: Vor 11.00 Uhr trinke ich nichts. Aber irgendwo auf der Welt ist es immer 11.00 Uhr.‹ R.R. konnte sich nicht erinnern, dass er Koslowski während seiner Arbeitszeit schon mal Biertrinken gesehen hätte. Da bevorzugte er literweise Kaffee. Vermutlich setzte Sal den Spruch in der Freizeit oder im Urlaub um, wenn er denn mal welchen hatte. R.R. sah wieder zum Fenster. Er hatte heute nichts anderes vor, wollte nur eine gewisse Planung voranbringen, die das Oberhaupt des Neuköllner Araberclans Nasser Al-Sharif betraf und zu der er sich bis Mitte März den Termin gesetzt hatte.
R.R. stand auf und ging zu dem temperierten Weinschrank, öffnete die Tür und ließ einen kurzen Blick über die Ansammlung liegender Flaschen gleiten. Er entschied sich für einen neuseeländischen Pinot Noir, zog die Flasche heraus und schloss die Schranktür. Mit einem Korkenzieher öffnete er sie. Dann nahm er die bereitstehende Glaskaraffe und füllte die Flasche um. Den Rest aus der Flasche goss er sich gleich ins Glas. Er setzte den schweren Glasverschluss auf die Karaffe, nahm das Glas in die andere Hand, ging ins Wohnzimmer und stellte alles auf dem geräumigen Schreibtisch ab. Dann schaltete er den Laptop ein und setzte sich in den Schreibtischstuhl. Während der Laptop seine Zeit brauchte, um hochzufahren, hielt er seine Nase ins Glas, sog den Duft ein. Anerkennend verzog sich sein Mund zu einem zufriedenen Lächeln. Ja, das war eine gute Wahl und mit der Zeit in der Karaffe würde er noch besser werden. Nachdenklich schloss er die Augen und dachte an den Auftrag, den ihm Mohammed Javed Zarif gegeben hatte, kurz bevor er ihn dann erschoss. Irgendetwas ließ ihn zögern, es hinausschieben. Hatte er Skrupel? Er hatte sein Wort gegeben und als er das Geld genommen hatte, war klar, dass er den Auftrag ausführen würde. Es ließ sich nicht länger hinauszögern. Das war er Zarif und noch mehr seinem Pflichtgefühl schuldig. Doch irgendwie konnte er sich nicht dazu durchringen. Was war es, dass ihn zögern ließ? Nassers lukrative Aufträge, die es nicht mehr geben würde? Er war sich sicher, er würde andere bekommen. Er hatte einen guten Ruf in der Branche. Und selbst wenn nicht, er hatte genug Geld, um für den Rest seines Lebens ein Auskommen zu haben. Er brauchte nicht viel, das Teuerste waren die Heimkosten für seinen dementen Vater. Was war es dann? Die Unwägbarkeiten, die es mit sich brachte, wenn ein Berliner Clanoberhaupt das Zeitliche segnete? Vermutlich würde es einen Bandenkrieg auslösen. Neu aufflammende Gebietsstreitigkeiten. Revier- und Verteilerkämpfe. Die Führungsstärke von Nassers Sohn Karim würde auf die Probe gestellt werden. Es würde vermutlich ein paar Tote geben und wahrscheinlich würde es auch Unschuldige treffen. War es das, was ihn zögern ließ?
Er öffnete die Augen und nahm einen kleinen Schluck aus dem Glas. Er ließ den Wein in seinem Mund kurz hin und her rollen, bevor er ihn hinunterschluckte. Zufrieden stellte er das Glas wieder auf den Tisch. Seine Gedanken fingen wieder an, um Nasser Al-Sharif zu kreisen. Er hatte schon vor einiger Zeit bemerkt, wie der ihn in letzter Zeit musterte und dabei immer freundlich blieb. Doch seine Augen konnten nicht lügen. Steine blieben Steine, auch wenn sein Mund freundlich lächelte. Nasser überspielte etwas. Und dann hatte R.R. gehört, dass Nasser sich einen Neuen in die Stadt geholt hatte, einen Ausputzer aus Bremen. Die Empfehlung eines befreundeten Araberclans. R.R. hatte sich vorsorglich die Adresse des Bremers besorgt und sich dort umgesehen. Reine Routine. Man konnte nie wissen. Die Wohnung befand sich in der Nähe vom S-Bahnhof Tiergarten. Wie er dann feststellte, stand die Wohnung darüber leer. Er hatte sie sich angesehen. Wenn es hart auf hart kam, würde der Bremer sicher nicht damit rechnen, wie dicht R.R. an ihm dran war. Der Bremer dürfte noch etwas Zeit brauchen, um Berlin besser zu verstehen, um sich einzugewöhnen. Den Atem dieser Stadt einzufangen, das andere Ticken, das Tempo und die merkwürdigen Eigenheiten, die keine andere Stadt besaß. R.R. musste kurz auflachen, als ihm dabei die unfreundlichen Berliner Busfahrer einfielen. Aber R.R. wusste auch, es war nur eine Frage der Zeit, bis für ihn die Luft dünner und Nasser seine Dienste nicht mehr benötigen würde. Jetzt wo er diese Überlegungen sortierte, stellte er fest, es gab keinen Grund, es weiter hinauszuzögern.
Das Klingeln des Handys riss ihn aus den Gedanken. Er sah auf das Display. Lächelnd ging er ran: »Hi Sal, altes Haus, was macht die Mörderjagd?«
»Alles ruhig«, kam es lachend vom anderen Ende. »Die Jungs von der Vierten und Sechsten haben mehr zu tun.«
»Und was?« Es interessierte ihn nur höflichkeitshalber.
»Die Vierte untersucht seit einem Monat den Tod einer Anwaltsassistentin«, antwortete Koslowski bereitwillig. »Ihre Leiche ist in einer ausgebrannten Kanzlei gefunden worden. Wenig später wurde die Anwältin, ihre Chefin, tot in einem Zugabteil aufgefunden. Kopfschuss. Sie war der Rechtsbeistand von Nasser Al-Sharif und unterwegs nach Paris. Und als Krönung hat die rechte Hand von Nasser einen Tag später Selbstmord verübt. Den Tod der Anwältin untersucht die Sechste zusammen mit den Franzosen.« Koslowski legte eine kurze Pause ein und schob dann in einem sarkastischen Tonfall hinterher: »Alles natürlich reiner Zufall und hat nichts miteinander zu tun.« Koslowski lachte leise. R.R. war still geworden und ordnete seine Gedanken.
»Und du siehst das anders?«, fragte er.
»Ja, ich kann bis drei zählen, aber mich hat keiner um meine Meinung gebeten. Warum fragst du?«
»Ach, nur so.«
»Haben deine kriminellen und halbkriminellen Freunde dir was erzählt?«, bohrte Koslowski nach.
»Was sollen sie mir erzählt haben?«
»Na über die Todesfälle. Ich denke, die Straße achtet sehr genau darauf, was passiert. Und wenn es drei Tote gibt, die mit dem Clan von Nasser in Verbindung stehen, machen sie sich Gedanken. So wie ich mir einen Reim darauf mache. Sind ja nicht alles Idioten. Mein Gefühl sagt mir, es werden noch ein paar Tote folgen. Du wirst es mir doch mitteilen, wenn da was im Busch ist, oder?«
»Dafür bist du aber gut gelaunt«, erwiderte R.R., ohne auf Koslowskis Frage einzugehen. Koslowski registrierte es, fragte aber nicht weiter nach. Er wusste, dass R.R. sich seit Jahren in einem grauen Umfeld bewegte, nachdem er aus der Fremdenlegion desertiert war. Koslowski wollte nicht wissen, welcher Art R.R.s Geschäfte waren. R.R. war sein Freund. Darum sagte er nur: »Warum auch nicht. Ein paar Gangster dezimieren sich gegenseitig. Das verschafft der Stadt etwas Luft und mir Arbeit.«
»Wo bleibt deine moralische Messlatte?« R.R. hatte misstrauisch die Augenbrauen hochgezogen.
»Die hab ich tiefer gelegt. Die hat seit den letzten beiden Fällen einen Knacks bekommen.«
»Wie das?«
»Vielleicht waren mir die Mörder zu sympathisch.«
»Es kann nicht nur unsympathische Mörder geben«, stellte R.R. sachlich fest, um dann die Frage hinterherzuschieben: »Aber deswegen hast du nicht angerufen, oder?«
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