Das Gewitter hatte Fallward fast erreicht. Der Wind frischte an der Küste merklich auf und verwandelte sich innerhalb von Augenblicken zu einem heftigen Sturm. Die Windböen peitschten durch die Siedlung und über die Dächer der Langhäuser hinweg. In der Siedlung brach Chaos aus. Die Menschen ließen sofort ihre Arbeiten stehen und liegen. Sie sicherten ihre Boote, ihre Langhäuser und allen voran ihre Vorratsspeicher. Die Siedler holten das Vieh von den Weiden und trieben es in die Ställe zurück. Kleine Hagelkörner prasselten als eine Art Vorbote des Unwetters auf Fallward und seine Einwohner nieder. Befehle wurden in den kleinen Sturm gebrüllt, die sogleich im Heulen des Windes erstickten. Die Reetdächer kämpften gegen die Böen und drohten abgerissen zu werden. Das Vieh in den Ställen lärmte, doch niemand fand Zeit die Tiere zu beruhigen.
Die alte Aaltje beobachtete das Geschehen in Fallward. Sie war viel zu alt um noch großartig mit anzupacken. Ihre Stimme hatte nicht mehr die Kraft, gegen den Sturm anzukommen. Langsam verließ sie das Grundstück des Herrenhofes und schlich sich mit ihrem Stock durch die Siedlung. Ihren dicken Wollumhang hatte sie eng um ihre Schultern gelegt und hielt ihn fest. Sie sah an jedem Hof das gleiche chaotische Bild. Tiere flohen vor Panik aus ihrem Stall und wurden wieder eingefangen. Kinder schrien und wimmerten vor Angst.
Langsam ging sie durch Fallward und blieb am Rand der Siedlung stehen. Mittlerweile hatte der Hagel aufgehört. Ein leises Grummeln durchzog immer wieder den Himmel. Kleine Blitze zuckten durch die schwarzen Wolken. Aaltje gehörte wohl zu den wenigen Siedlerinnen, die dieses Wetter liebten. Nachdenklich ließ sie ihren Blick über die aufgewühlten Wogen der Nordsee schweifen.
Aaltje lebte bereits über sechzig Winter hier in Fallward. Hier war sie aufgewachsen. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie sie als Kind im Watt unterwegs gewesen war und dort Muscheln und Krebse gesammelt hatte. Sie erinnerte sich, wie sie an heißen Sommertagen in der Nordsee gebadet hatte, wie sie von ihrer Mutter alles Wichtige für das Leben auf einem Hof gelernt hatte. Sie erinnerte sich an kalte Wintertage und spannende Geschichten am Herdfeuer. Das waren noch schöne ruhige Zeiten gewesen. Zeiten, in denen die Chauken zusammenhielten und bei Problemen füreinander da waren. Aber nun stellte sie immer mehr fest, dass sich die Dorfgemeinschaften veränderten und der Stamm sich zerstritt. Ihr Sohn Arnodd wollte gemeinsam mit vielen anderen Siedlern zum Beginn des nächsten Sommers Fallward verlassen, um in Britannien ein neues Leben zu beginnen. Ins Emsland drangen die Friesen immer weiter vor und übernahmen in den letzten Jahren etliche Siedlungen der Chauken. Es war nur noch eine Frage der Zeit bis die Friesen über die Weser setzen.
Aaltjes Herz verkrampfte sich, wenn sie daran dachte, ihr geliebtes Zuhause verlassen zu müssen. Sie sah an sich runter und stellte fest, dass sie immer dünner und faltiger geworden war. Ihre Kleider hielten nur dank der Bronzefibeln auf ihren Schultern zusammen. Wahrscheinlich würde sie eine Reise nach Britannien gar nicht überstehen.
>>Hier steckst du! Hast du Eske gesehen?<<
Aaltje wurde aus ihren düsteren Gedanken gerissen und drehte sich kurz zu der vertrauten Stimme um. Sie musterte ihre Tochter Beeke kurz und sah wieder zu den Wogen der Nordsee, welche rauschend gegen das Ufer brandeten. Der Regen störte sie nicht. Sie fand es schön die Kräfte der Natur hautnah zu erleben.
>>Im Moor.<< Aaltje lächelte verschmitzt und kuschelte sich in ihrem dicken Wollumhang. >>Glaube ich.<<
Entsetzt schaute Beeke zum Himmel auf und kräuselte ihre Stirn.
>>Wie bitte?! Sie kann vor der Dämmerung nicht einfach fortgehen! Und dann auch noch in das Moor?!<<
Über ihr blitzte es in den Wolken. Die grauen Wolken türmten sich zu schwarzen Gebilden auf und Beeke fragte sich besorgt, was sich dort oben wohl wirklich zusammenbraute.
Aaltje folgte Beekes Blick und lächelte ruhig.
>>Tja, ihre Entscheidung. Sie wird schon wiederkommen. Sie macht das doch öfter.<<
>>Als Frau des Dorfherren ist es ihre Pflicht, hier zu sein und… Was stehst du eigentlich bei diesem Sauwetter hier am Wasser? Du holst uns den Tod ins Haus!<<
Vorwurfsvoll sah Beeke zu ihrer alten Mutter und packte sie am Arm. >>Komm, wir müssen ins Haus gehen!<<
Aaltje konnte sich ein heimliches Grinsen nicht verkneifen. Beeke, war ihre jüngste Tochter und ungefähr im selben Alter, wie Eske.
>>Das Unwetter kommt aus dem Südosten. Findest du das nicht auch sehr ungewöhnlich? Schau, wie die Flut mit dem Sturm kämpft? Ich habe es schon immer geliebt, den Naturgewalten zuzusehen.<<
Aaltje sah verträumt den schäumenden Wogen zu, wie diese gegen die Wurt prallten und dort brachen. Aber nach einigen Augenblicken rieb sie sich müde ihre kleinen verblassten Augen.
>>Doch, du hast Recht. Wenn wir hier stehen bleiben und uns durchregnen lassen, holt uns tatsächlich noch der Tod!<<
Gemeinsam mit Beeke, eilte die Alte durch die Siedlung zurück. Für ihr hohes Alter war sie noch erstaunlich gut zu Fuß. Sie brauchte zwar einen Stock, weil sie sonst Rückenschmerzen bekam, aber sonst kam sie noch flott durch die Siedlung.
Am Dorfbrunnen blieb sie stehen und ließ ihren Blick über die Siedlung und die Marsch schweifen. Allmählich machte sie sich Sorgen. Die Flut hatte ihren Kampf gegen den Sturm gewonnen und überschwemmte die umliegenden Äcker. Die Gräben und Priele waren schon langer übergelaufen.
>Hoffentlich hatten es alle Siedler rechtzeitig in die Häuser geschafft <, fuhr es der Alten durch den Kopf. Beeke fasste sie am Arm und wollte Aaltje weiterziehen, da stockte die alte Dame plötzlich und sah ihre Tochter verwirrt an. >>Wo wollten wir noch gleich hin, Beeke?<< Beeke starrte sie entgeistert an, da sie ihren Ohren nicht traute. Aaltje mochte körperlich gesund sein, doch ihr Geist wurde zusehends schwächer. Beeke ließ es sich nicht anmerken, aber diese Erkenntnis machte sie traurig. Sie wollte ihre alte Mutter nicht beunruhigen. Sie riss sich zusammen und nahm wieder Aaltjes Arm. >>Na, nach Hause. Komm!<<, erinnerte Beeke sie ungeduldig und zog ihre Mutter weiter über den großen Dorfplatz, zu dem Herrenhaus. Völlig durchnässt setzten sie sich an die Feuerstelle und zogen ihren nassen Wollumhang aus. Als das Gewitter die Fallward erreicht hatte, zogen sich alle Siedler in ihre Häuser zurück und setzten sich an die warme Feuerstelle in ihren Langhäusern. Keiner wagte es zu sprechen, sondern alle lauschten dem unheimlichen Donnergrollen. Jeder Siedler war jederzeit bereit fluchtartig das Haus zu verlassen, falls der Blitz in das Reetdach einschlug und es entzündete. So harrten sie aus und lauschten dem Heulen des Windes. Normalerweise war in Fallward immer viel los. Der Dorfplatz war selten verlassen. Männer bewachten die Wurt, Kinder spielten auf dem Dorfplatz, wenn sie nicht gerade auf den Felder oder bei den Tieren helfen mussten. Nachbarn stritten sich an ihren Zäunen und Hühner liefen zwischen den Höfen herum. Doch nun wirkte die Siedlung wie ausgestorben. Ein greller Blitz schoss erneut durch die Siedlung. Ein lauter Donnerschlag folgte. Die Bewohner des Herrenhauses und sogar die alte Aaltje erschraken sich. Meistens zog ein Gewitter schnell weiter, doch dieses hier, hatte Ausdauer.
>>Wieso zieht Thunar nicht weiter? Wenn sein Blitz unsere Vorräte erwischt…<<, murmelte Beeke verzweifelt.
>>Er zieht gleich weiter. Bestimmt. Wir müssen Geduld haben und ihm vertrauen.<< Aaltje versuchte sich entspannen. Sie vertraute den Göttern. Wieso sollten sie Thunar erzürnt haben?
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