Der Weg zur Festung führte sie nach Südosten. Ungefähr einen halben Tag reisten sie zum Fabiranum. Die Marsch, mit ihren Gräben und das Moor mit den Holzbohlenwegen, waren für die Bauern keine großen Hindernisse mehr. Sie kannten die Wege, die sie mit einem Karren wählen mussten, um nicht im Schlamm stecken zu bleiben. Schon vor Generationen hatten sie die Moorpfade mit Eichenbohlen befestigt.
Das Wetter glich Thedas Stimmung. Trüb und regnerisch hingen dichte Wolken am Himmel, die das Moor noch unheimlicher wirken ließen. Langsam zog ein leichter Nebel auf, der durch die Birken und Büsche waberte. Theda hörte die Gespräche ihrer Eltern und je länger sie den Gesprächen der Erwachsenen lauschte und ihre Sorgen und Probleme hörte, um so entschlossener wurde sie, ihren letzten Plan durchzuführen!
Ohne groß nachzudenken, sprang sie plötzlich von dem Karren, stolperte kurz und rannte los. Es war ihr egal, ob sie hier im Moor versinken würde oder sich im Nebel verlief. Sie wollte nur fort. Theda hörte, wie ihre Mutter panisch nach ihr rief und jemand, vermutlich ihr Vater, lief ihr nach. Theda wagte nicht, sich umzudrehen. Das kostete nur Zeit! Sie hangelte sich durch die Birken und Sträucher und vermied es, in die Schlammlöcher zu treten.
Die Tücken des Moores kannte sie gut. An etlichen Stellen wirkte es trockener, als es eigentlich war. Ein falscher Schritt könnte für sie den Tod bedeuten. Hinter sich hörte sie ihren Vater schimpfen und fluchen. Seine eiligen Schritte kamen immer näher. Er hatte sie fast erreicht. Sie weinte vor Verzweiflung.
Plötzlich stolperte sie und fiel auf bäuchlings auf den Moorboden. Theda fing den Sturz noch rechtzeitig mit ihren Armen ab, allerdings schmerzte ihr Knöchel und bald darauf tat ihr alles weh.
Sie blieb liegen. Es war vorbei. Bald würde ihr Vater sie eingeholt haben, nach oben zerren und ihr wahrscheinlich eine Ohrfeige verpassen. Die Flucht war vorbei.
Da griff jemand nach ihrer Hand und zog sie hoch. Zitternd sah sie auf, doch es war nicht ihr Vater! Ängstlich sah sie in das besorgte Gesicht eines Fremden. Normalerweise wäre sie vor Schreck bestimmt davon gelaufen, doch nun starrte sie ihn wie gebannt an. Er war anders als andere Menschen. Nein, das war kein Mensch, eher eine Art Schemen, der sich deutlicher vor ihr formierte. Theda fühlte, eine unglaubliche Stärke und Magie von diesem Wesen ausgehen. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme versagte.
Der Schatten verschwand und plötzlich trat ein älterer Herr und eine jungen Frau aus dem dichten Nebel heraus. Theda blinzelte, als hoffte sie, dass die Trugbilder dadurch verschwinden, doch das Paar blieb. Ihre Blicke waren weit in die Ferne gerichtet, als hielten sie nach Thedas Verfolger Ausschau. Die Zeit schien für einen kurzen Moment stillzustehen.
>>Seid ihr Moorgeister?<<
Theda hatte schon öfter, solche Wesen gesehen, das war ihr nicht fremd. Früher hatte sie sich vor solchen Erscheinungen gefürchtet, schließlich akzeptiert, aber hier im Moor war es etwas Neues.
Als sie jünger war, hatte sie versucht mit ihren Eltern darüber zu reden, doch sie hatten nur über Thedas Geistergeschichten gelacht. Selbst die anderen Siedler winkten das ab und verspotteten Theda. Die Jahre vergingen und nun fand es niemand mehr lustig, wenn sie über Stimmen berichtete, die sie in ihren Kopf hörte und von Geistern erzählte, die nachts in das dunkle Langhaus kamen. Insgeheim wusste Theda, dass dies der Hauptgrund war, weshalb sie das Dorf verlassen musste.
Die junge Frau sah sofort zu dem Mädchen und kniete sich zu ihr runter. Vorsichtig strich sie über Thedas Kopf.
>>Nein, kleine Theda<<, flüsterte sie ihr zu. Zärtlich berührte sie das kleine Menschenkind an dem schmerzenden Knöchel und nahm vorsichtig ihre Hand.
>>Besser?<<, hackte die Frau besorgt nach.
Theda seufzte erleichtert. Sie mochte die Frau auf Anhieb.
Theda nickte begeistert.
>>Danke!<<, freute sie sich und sah sich ihren Knöchel an.
>>Ihr seid sooooo nett. Darf ich mit euch kommen? Biiiiiiiiitte!<<
Die Frau schüttelte den Kopf.
>>Das geht leider nicht, noch nicht. Aber wir werden dir helfen. Höre auf deine innere Stimme, sie wird dich führen.<<
Liebevoll strich sie der Kleinen durch das lange dunkle Haar, während sich beide Schemen langsam im Nebel des Moores auflösten. >Versprochen< , hörte Theda eine sanfte Stimme in ihrem Kopf.
>>Nein! Geht nicht!<<
Verzweifelt wollte sie ihnen folgen, tiefer in den Nebel hinein gehen. Hinter sich spürte sie ihren Verfolger näher kommen. Er hatte sie fast erreicht. Sie spürte bereits seinen Atem in ihrem Nacken.
Die Chauken- Die Wesermarsch im Jahr 332 n.Chr.
Schlagartig erwachte Theda. Sie zitterte und eiskalter Schweiß lief ihr übers Gesicht. So tief saß der Schrecken in ihren Knochen. Wie gebannt starrte sie an die Decke ihres Zimmers und lauschte. Es regnete. Seit Wochen fiel der Regen auf die Festung der Chauken nieder. Der kalte Westwind trieb immer wieder neue Regenwolken in das Land. So war es fast jedes Jahr, wenn sich der Sommer dem Ende neigte.
Langsam fuhr sie sich mit ihrem langen, dünnen Fingern über ihre Augen und registrierte, dass sie im Schlaf geweint haben musste. Vorsichtig setzte sie sich auf die Bettkante ihres massiven Eichenholzbettes und atmete tief durch. Sie hasste Träume, die von Erlebnissen aus ihrer Kindheit handelten und sich anfühlten als passierte es wirklich.
Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, ging sie zu ihrer Kleidertruhe, die gleich neben ihrem Bett stand. Sie zog sich langsam ihr dunkelrotes Wolloberkleid über ihr weißes Leinenkleid und befestigte die Träger des Kleides auf Schulterhöhe mit bronzenen Bügelfibeln. Vorsichtig legte sie sich eine Perlenkette aus Bernstein um und dazu noch eine blaue Glasperlenkette. Um ihre Hüfte band sie sich einen breiten Stoffgürtel, an dem ein Stoffbeutel hing, der mit kleinen Tierknochen befüllt war. Diese dienten ihr als Orakel. Zusätzlich trug sie noch ein schlichtes Messer bei sich und einen Beutel mit ihren Alltagsgegenständen, wie Haarnadeln, einen Kamm aus Knochen und verschiedene Nähnadeln. Schnell schlüpfte sie noch in ihre einfachen Lederschuhe und begann ihr prächtiges rötliches Haar zu pflegen und zu flechten. Eigentlich hatte sie dunkelbraunes Haar, nur versuchte sie sich ihre Haare in regelmäßigen Abständen mit Hilfe von Talg und Asche aufzuhellen. Leider erzielte es bei ihrer Mähne nicht den gewünschten Effekt und ihre Haare wurden eher rötlich.
Der Traum hatte sie sehr mitgenommen. Ihre Kindheit. Wenn sie sich an etwas nicht erinnern wollte, dann daran.
Ihre Eltern schoben sie bei Ulfmarr ab und starben nur wenige Tage später bei einem Sturm. Einen Sturm, den sie vorhergesehen hatte. Ulfmarr erkannte schnell Thedas seherischen Gaben und nahm sie unter seinen persönlichen Schutz. Als sie erwachsen war, ernannte er sie als seine Seherin und zur Hohepriesterin der Chauken.
Nicht jeder wusste ihre Fähigkeiten zu schätzen. Darunter Arn, Ulfmarrs Leibwächter und engster Vertrauter. Noch nie hatte Theda jemanden getroffen, der so ein kaltes Herz besaß, wie dieser Hüne. Seitdem er Theda kennengelernt hatte, schien er nur ein einziges Ziel in seinem Leben zu haben. Er wollte sie brechen. Sie irgendwie loswerden. Dummerweise war nur Ulfmarr im Weg, der ganz vernarrt in sie war.
Vor einigen Wochen hatte es Arn irgendwie geschafft, sie der Schadzauberei zu verdächtigen und während ihrer Gefangenschaft bis zur Verhandlung, überfiel er sie in ihrer Unterkunft. Er hatte an ihr seinen ganzen aufgestauten Frust ausgelassen, sie getreten, geschlagen und missbraucht.
Mittlerweile waren ihre Wunden verheilt, doch ihr Geist litt noch sehr unter diesen Erfahrungen. Es war gar nicht so sehr die Tatsache, dass Arn ihr Gewalt angetan hatte. Nein, erschreckend war, dass niemand, nicht einmal Ulfmarr, ihr geglaubt hatte. Allerdings, warum sollte er auch? War sie doch nur eine einfach Halbfreie in Ulfmarrs Diensten.
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