Ein bedrohliches Knarzen der Holzbretter verriet ihm, dass jemand den Wall betreten hatte. Kurz drehte er sich um und entdeckte am anderen Ende Theda, die langsam auf ihn zu ging. Sie wohnte seit ihrer Kindheit in Ulfmarrs Haushalt und er ernannte sie, wegen gewissen magischen Fähigkeiten, im Laufe der Jahre zu einer Hohepriesterin der Chauken.
Arnodd lächelte ihr kurz zu und sah wieder in die Ferne. Er möchte das kleine zierliche Ding, obwohl sie gewisse unheimliche Züge hatte. Sie behauptete Wesen aus der jenseitigen Welt sehen zu können und manchmal traf sie sich angeblich persönlich mit Woden, den einäugigen Gott. Arnodd wusste nie so recht, was er von ihr halten sollte. Eigentlich hielt er nie viel von Sehern oder Seherinnen, aber Theda hatte ihn schon mehrmals überzeugt. Möglicherweise lag dies an dem durchdringenden Blick ihrer kristallblauen Augen, der keinen Widerspruch zuließ. Vielleicht auch daran, dass sie in ihren Vorhersagen stets richtig lag. Allerdings beobachtete Arnodd in letzter Zeit, dass ihre Fähigkeiten nachließen. Auch ansonsten war sie viel unsicherer und ängstlicher als früher.
Er hoffte, Theda wurde bald wieder zu ihrer alten Stärke zurückfinden, bevor auch den anderen Siedlern ihre Schwäche auffiel. Einige wenige Siedler mochten sie, aber die meisten fürchteten sich vor ihr und ihren Prophezeiungen. Und genau wegen dieser Furcht, ließen die Siedler sie zufrieden.
>>Arnodd, ich kam noch gar nicht dazu mich bei dir zu bedanken. Für deinen Beistand vor dem Gericht.<<
Theda trat langsam neben Arnodd und sah ihn aufmerksam an.
Aber Arnodd winkte sofort ab.
>>Ich tat das, was meine Pflicht war. Arn hat mit seinem Bestechungsversuch, das ganze Thing entehrt. Das durfte ich nicht zulassen. Ich möchte die Götter nicht gegen meine Sippe aufbringen.<<
Arnodd sah sie ruhig an und räusperte sich.
>>Versteh´ mich nicht falsch, ich traue dem ganzen seherischen Kram nicht, aber Arn traue ich noch weniger. Was hat er eigentlich gegen dich? Warum wollte er dich so offensichtlich loswerden?<<
Theda zuckte mit den Schultern und sah ihn ratlos an.
>>Ich weiß nicht. Vielleicht Neid?<<, seufzte sie nachdenklich, >>vielleicht Neid auf mich und Ulfmarr.<<
Arnodd hob eine Augenbraue und horchte auf.
>>Inwiefern?<<, hackte er interessiert nach. Das fehlte ihm auch noch, das sein Neffe seine Lieblingspriesterin zur Frau nahm. Sie hatte weder Familie noch Vermögen. Sie war nichts und er brauchte eine Frau, die eine große vermögende Familie besaß, die seine Position festigen konnte.
>>Oh, ähm nicht auf diese Weise.<<
Theda räusperte sich verlegen und atmete tief durch. Sie wandte sich von ihm ab und sah schüchtern zu Boden.
>>Ich… ich werde niemals heiraten… Das wird nicht mein Schicksal sein<<
Arnodd sah sie besorgt an. Irgendwas hatte Theda doch. So war sie früher nicht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie diese einfache Frage so aus der Fassung brachte.
>>Ist alles in Ordnung?<<, erkundigte er sich.
Ein entferntes Räuspern lenkte Theda ab. Sie zuckte vor Schreck zusammen und wagte nicht, sich nach dem Geräusch umzudrehen.
Arnodd sah an ihr vorbei und beobachtete, wie Ulfmarr und sein Leibwächter Arn den Wall betraten. Täuschte er sich oder verkrampfte sich Theda immer stärker, je näher die zwei Herren kamen.
>>Theda? Ist alles in Ordnung?<<, wiederholte er besorgt, aber so leise, dass Ulfmarr und Arn ihn nicht verstehen konnten.
Hektisch sah sich Theda um.
>>Ich bin nur müde. Ich ziehe mich zurück.<<
Übereilt rannte sie an Arnodd vorbei, bevor die Männer ihn erreicht hatten und verschwand schnell aus deren Sichtfeld.
>>Arnodd! Hier steckst du also!<<
Ulfmarr, ein junger kräftiger Mann mit dunklen Vollbart und ungefähr fünfunddreißig Winter alt mit hellbraunen Haar und grüne Augen, ging auf ihn zu und stellte sich neben ihm. Lässig stützte er sich auf den Palisaden ab. Selbstverständlich war sein Leibwächter Arn bei ihm, der Theda grinsend hinterher sah. Arn überragte Ulfmarr um zwei Köpfe und war unter den Chauken allgemein als Hühne bekannt und im etwa selben Alter war, wie Ulfmarr. Er trug stets dunkelgraue Farben, was aus ihm eine wahrhaft furchteinflößende Erscheinung machte.
>>Du feierst nicht mit uns<<, stellte Ulfmarr fest, >>was ist los? Und was wollte Theda von dir?<<
>>Theda? Sie hat sich nach meiner Familie erkundigt.<<
Arnodd seufzte und deutete mit seinem Trinkbecher zu den Gewitterwolken, die langsam Richtung Nordsee abzogen.
>>Hoffentlich hat das Gewitter nicht unsere Vorräte für den Winter zerfetzt.<<
Arnodd versuchte die beiden Herren von Theda abzulenken. Ihm gefiel Arns Grinsen nicht, mit dem er Theda beobachtet hatte. Nachdenklich fuhr er sich durch seine zotteligen Haare.
Ulfmarr lachte und lehnte sich lässig gegen einen Holzbalken und klopfte seinen Onkel amüsiert auf die Schulter.
>>Du machst dir zu viele Gedanken! Deswegen ziehen wir doch in vier Wochen nach Westen zu den Friesen und holen uns von ihnen was wir für den Winter brauchen. Das Gebiet zwischen der Ems und Weser war immer in unseren Händen. Wir holen uns uns zurück, was uns gehört.<<
Arnodd schüttelte mürrisch seinen Kopf und fasste mit einer Hand gegen seine Stirn.
>>Ich sagte bereits, es wäre besser, wenn wir gegen die Langobarden ziehen. Die Friesen sind ein Küstenvolk wie wir. Mit einem gemeinsamen Feind. Die Nordsee. Irgendwann könnten wir die Hilfe der Nachbarn brauchen. Die Friesen haben den Küstenabschnitt gewaltfrei übernommen. Unser Stamm vermischte sich in all den Jahren mit ihnen. Dabei sollten wir es belassen. Du wirst nicht genug Sippen finden, die dich unterstützen.<<
Er sah seinen Neffen ernst an. Ulfmarrs Schlachtpläne waren in seinen Augen Unsinn.
>>Wir könnten statt deiner Schlacht lieber alte Handelsbeziehungen und Bündnisse auffrischen. Und im Winter losziehen? Es sterben schon so viele Siedler durch Krankheit und Hunger und du willst eine Schlacht?!<<
Ulfmarr sah ihn lange und abschätzend an. Er beschloss, Arnodd zu beschwichtigen und redete ruhig und besonnen auf ihn ein.
>>Du glaubst doch nicht wirklich, was du da von dir gibst. Hast du vergessen, wie sie uns vor ungefähr zwanzig Wintern angegriffen haben. Bei Handelsbeziehungen wirst du doch nur betrogen. Wir müssen uns anfangen zu behaupten, sonst geht unser Stamm unter.<<
Arnodd schwieg. Alles war besser als Krieg. Er wollte nicht noch mehr Siedler verlieren. Arnodd hatte in der Vergangenheit anderen Nachbarstämme ausgeholfen, wenn sie in Not waren, wodurch er einen guten und ehrenhaften Ruf erhalten hatte. Er war schon seit jeher der Meinung gewesen, dass die Siedler an der Küste nur überleben konnten, wenn sie zusammenhielten. Leider vertraten diese Meinung längst nicht alle.
Als Arnodd noch jünger war, dachte er anders. Erst im Laufe der Jahre und mit der Geburt und den Verlusten seiner Kinder, bevorzugte er friedliche Lösungen zu finden. Vielleicht wurde er im Alter einfach träger. Arnodd wich Ulfmarrs provozierenden Blick aus und sah wieder in die Ferne.
Langsam verlor Ulfmarr die Geduld und schlug mit der Faust gegen einen Holzbalken.
>>Arnodd, die Mehrheit hat entschieden. So sind unsere Gesetze!<<, warf er Arnodd wütend entgegen.
Arnodd sah ihn ausdruckslos an und nickte. Kurz sah er unmerklich zu Arn, der die ganze Zeit schweigend und mit seinem eiskalten Blick auf ihnen herabsah. Er war sich sicher, dass diese Entscheidung ebenso manipuliert war, wie Thedas Verhandlung. Aber dafür hatte er keine Beweise.
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