Dies ist ein allgemeines Bild von Samsara. Seit anfangsloser Zeit sind wir in Samsara gefangen. Ohne Freiheit oder Kontrolle irren wir ohne Sinn in den verschiedenen Bereichen umher, von den himmlischen Gefilden bis zu den tiefsten Höllen. Manchmal weilen wir bei den Göttern in den oberen Stockwerken, manchmal leben wir in einer menschlichen Wiedergeburt im Erdgeschoss. Die meiste Zeit jedoch hausen wir in den Kellergeschossen und müssen schreckliche körperliche und geistige Qualen erdulden.
Obwohl Samsara einem Gefängnis gleicht, gibt es ein Tor, durch das wir fliehen können. Dieses Tor ist Leerheit, die endgültige Natur der Phänomene. Schulen wir uns in den spirituellen Pfaden, die in diesem Buch erklärt sind, werden wir schließlich den Weg zu diesem Tor finden. Wenn wir hindurch schreiten, werden wir feststellen, dass das Haus nur eine Illusion war, eine Schöpfung unseres unreinen Geistes. Samsara ist kein äußeres Gefängnis. Es ist ein Gefängnis, erschaffen von unserem eigenen Geist. Samsara wird niemals von selbst aufhören. Nur wenn wir gewissenhaft den wahren spirituellen Pfad praktizieren und dadurch unser Festhalten am Selbst und andere Verblendungen beseitigen, können wir unser Samsara beenden. Haben wir selbst Befreiung erlangt, dann können wir anderen den Weg zeigen, wie sie ihr geistiges Gefängnis durch Beseitigung ihrer Verblendungen zerstören können.
Praktizieren wir die in diesem Buch vorgestellten einundzwanzig Meditationen, dann überwinden wir allmählich unsere verblendeten Geisteszustände, die uns in Samsara gefangen halten. Zudem werden wir alle Eigenschaften entwickeln, die wir brauchen, um die volle Erleuchtung zu erlangen. Die ersten sechs Meditationen führen vor allem zu Entsagung, dem Entschluss Samsara zu entkommen. Die zwölf darauffolgenden Meditationen helfen uns, tiefempfundene Liebe und Mitgefühl für alle Lebewesen zu entwickeln. Sie führen uns zu der Erkenntnis, dass wir andere Lebewesen nur aus Samsara befreien können, wenn zuerst wir selbst Erleuchtung erlangen. Das hauptsächliche Hindernis, das uns davon abhält Befreiung und Erleuchtung zu erlangen, ist das Festhalten am Selbst, eine tief verwurzelte, falsche Vorstellung davon, wie die Dinge existieren. Die hauptsächliche Funktion der nächsten beiden Meditationen besteht darin, dieser falschen Vorstellung entgegenzuwirken und sie schließlich zu zerstören. Und die letzte Meditation ist die Methode, unsere Erfahrungen der vorherigen zwanzig Meditation zu vertiefen.
WIE MAN MEDITIERT
Jede der einundzwanzig Meditationen hat fünf Teile: Vorbereitung, Kontemplation, Meditation, Widmung und anschließende Praxis. Die Anleitungen, die diese einundzwanzig Meditationsübungen erklären, werden die «Stufen des Pfades» oder «Lamrim» genannt. Die Verwirklichungen dieser Meditationen sind die eigentlichen spirituellen Pfade, die uns zur großen Befreiung der vollen Erleuchtung führen.
Der erste Teil, die vorbereitenden Übungen, bereitet uns auf eine erfolgreiche Meditation vor. Wir reinigen Hindernisse, die durch früheres negatives Handeln verursacht wurden, reichern unseren Geist mit Verdiensten (oder Glück) an und beflügeln ihn durch die Segnungen der Buddhas und Bodhisattvas. Wenn wir tiefe Erfahrungen mit diesen Meditationen machen wollen, dann sind die vorbereitenden Übungen sehr wichtig. Wir beginnen deshalb unsere Praxis mit den Gebeten für die Meditation in Anhang I. Den Kommentar zu diesen Übungen finden wir in Anhang II.
Durch den zweiten Teil, die Kontemplation oder analytische Meditation, finden wir das Objekt der verweilenden Meditation. Wir erwägen verschiedene Argumente, betrachten Gleichnisse oder denken über die Bedeutung der Anleitungen nach. Es ist hilfreich, die jeweiligen Kontemplationen auswendig zu lernen. Dann können wir meditieren, ohne im Text nachschauen zu müssen. Die angegebenen Kontemplationen sind nur als allgemeine Richtlinien gedacht. Wir sollten sie mit für uns hilfreichen Begründungen und Beispielen ergänzen und anreichern.
Wenn das Objekt aufgrund der Kontemplation klar erscheint, beenden wir die analytische Meditation und konzentrieren uns einsgerichtet auf dieses Objekt. Die einsgerichtete Konzentration ist der dritte Teil, die eigentliche Meditation.
Wenn die Meditation neu für uns ist, ist unsere Konzentration noch schwach. Wir sind leicht abgelenkt und verlieren häufig das Meditationsobjekt. Deshalb müssen wir am Anfang sicher mehrmals in jeder Sitzung zwischen Kontemplation und verweilender Meditation abwechseln. Meditieren wir beispielsweise über Mitgefühl, dann denken wir zuerst so lange über die verschiedenen Leiden der Lebewesen nach, bis eine starke Empfindung von Mitgefühl in unserem Herzen entsteht. Über dieses Gefühl meditieren wir mit einsgerichteter Konzentration. Lässt das Gefühl nach oder schweift unser Geist zu einem anderen Objekt ab, dann wechseln wir zur analytischen Meditation, um uns an das Gefühl zu erinnern. Dann beenden wir abermals die analytische Meditation und halten das Gefühl wieder mit einsgerichteter Konzentration.
Kontemplation und Meditation sind Methoden unseren Geist mit tugendhaften Objekten vertraut zu machen. Je vertrauter wir mit diesen Objekten sind, desto friedlicher ist unser Geist. Durch Schulung in Meditation und durch ein Leben in Übereinstimmung mit den gewonnenen Einsichten und Vorsätzen, werden wir schließlich ein Leben lang ununterbrochen einen friedlichen Geist bewahren können. Ausführliche Anleitungen über die Kontemplationen und Meditation im Allgemeinen finden wir in den Büchern Wie wir unser Leben verwandeln und Freudvoller Weg.
Am Ende jeder Sitzung widmen wir die Verdienste, die durch unsere Meditation entstanden sind, der Erlangung der Erleuchtung. Widmen wir Verdienste nicht, dann können sie leicht durch Wut zerstört werden. Durch aufrichtige Rezitation der Widmungsgebete am Schluss jeder Meditationssitzung gewährleisten wir, dass die Verdienste, die durch das Meditieren entstanden sind, nicht verschwendet werden, sondern eine Ursache für Erleuchtung sein werden.
Der fünfte Teil jeder Meditationspraxis ist die anschließende Praxis nach der Meditation, während der Meditationspause. Sie besteht aus Ratschlägen, wie wir die Meditation mit unserem Alltag verknüpfen können. Wir sollten immer daran denken, dass Dharma Praxis nicht nur auf dem Meditationskissen stattfindet, sondern unser ganzes Leben durchdringt. Es sollte keine Kluft zwischen unserer Meditationspraxis und unserem täglichen Leben entstehen. Denn eine erfolgreiche Meditation hängt davon ab, wie rein unser Verhalten außerhalb der Meditationssitzungen ist. Mit Achtsamkeit, Wachsamkeit und Gewissenhaftigkeit sollten wir unseren Geist zu jeder Zeit beobachten und versuchen alle schlechten Gewohnheiten aufzugeben. Eine tiefe Erfahrung des Dharma ist das Ergebnis praktischer Schulung innerhalb und außerhalb der Meditation über einen langen Zeitraum hinweg. Wir sollten beharrlich und behutsam praktizieren, ohne schnelle Ergebnisse zu erwarten.
Kurz gesagt ist unser Geist wie ein Feld. Die vorbereitenden Übungen bereiten dieses Feld vor. Die Hindernisse, die durch frühere negative Handlungen verursacht wurden, werden beseitigt. Verdienste machen das Feld fruchtbar und die Segnungen der heiligen Wesen bewässern es. Kontemplation und Meditation sind wie eine gute Aussaat. Widmung und anschließende Praxis sind die Methoden, die die Ernte unserer Dharma Verwirklichungen zur Reife bringen.
Lamrim Anleitungen sind nicht dazu da, ein lediglich intellektuelles Verständnis des Pfades zur Erleuchtung zu erlangen. Sie sollen uns zu einer tiefen Erfahrung verhelfen und müssen deshalb in die Praxis umgesetzt werden. Durch tägliche Schulung unseres Geistes in diesen Meditationen werden wir schließlich vollkommene Verwirklichungen aller Stufen des Pfades erlangen. Bis wir das erreicht haben, sollten wir nicht müde werden, mündliche Unterweisungen über Lamrim anzuhören oder authentische Lamrim Kommentare zu lesen und anschließend über die Anleitungen nachzudenken und zu meditieren. Wir müssen unser Verständnis dieser essenziellen Themen ständig erweitern und mit den neu gewonnenen Einsichten unsere tägliche Meditation vertiefen.
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