»Falls Sir Vance am morgigen Tag nicht bis zur Mittagsstunde zurückgekehrt ist, werde ich zwei Reiter aussenden, um ihn an seine Pflichten zu erinnern.«
Die Schriftstücke in der Hand stand Cyril bereits an der Tür. »Mylord.« Er neigte den Kopf und verließ mit einer leichter Verbeugung den Raum.
Am folgenden Morgen ließ Lord Evan zeitig nach Cyril rufen, denn er hatte soeben erfahren, dass beim Dorfe Glynllys das Ross seines Hauptmanns gefunden wurde. Vier Wegstunden von Castellyn entfernt hatte ein Landmann kaum seinen Augen getraut, als er das stattliche weiße Tier auf der Brache weiden sah.
»Das verheißt nichts Gutes«, meinte Cyril nachdenklich. Er stand neben dem jungen Grafen in der großen Halle, wo Evan zur Mittagsstunde die Männer der Gefolgschaft versammelt hatte.
»Sonst wurde nichts gefunden?« Lord Evan schien fassungslos. »Habt Ihr auch alles abgesucht?«
»Wir haben jeden Strauch in der Nähe des Hofs durchkämmt, Mylord«, versicherte ihm Sir Norwood. Der weißbärtige Ritter war schon recht betagt und erfahren, sein Wort wog schwer. Da sein weißes Haar allmählich schütter wurde, trug er es entgegen der Gepflogenheit ungewohnt kurz und kämmte es auf dem Schädel keck über die kahle Stelle. Kraft seines Amtes als Bailiff oblag ihm seit langem die oberste Strafverfolgung in Cyfrinshire, in deren Ausübung er dem Sheriff von Pembroke unterstand, und bei der Aufklärung von Unrecht und Frevel war Norwood äußerst gründlich.
»Und keiner hat etwas gesehen?« Ungläubig blickte Evan in das silberbärtige Gesicht seines Lehnsmannes.
»Nein, Mylord. Den Leuten dort, außerhalb der Grenzen von Cyfrinshire, ist der Name Sir Vance nicht vertraut. Niemand kennt ihn.«
»Die gesamte Gegend von hier bis Glynllys muss abgesucht werden«, platzte Junker Cole unaufgefordert heraus. Er war bekannt für sein hitziges Gemüt. Obgleich ihn mit Vance mehr brüderlicher Wettstreit als Freundschaft verband, ging es hier um den Verbleib seines älteren Bruders, womöglich sogar um dessen Leben.
»Junker Cole, Ihr habt nur zu sprechen, wenn Ihr dazu aufgefordert werdet.« Cyril versuchte, seiner Stimme die Schärfe zu nehmen. Er konnte den ungezügelten Kerl nicht leiden, und das nicht nur aufgrund seines unangemessenen Benehmens. Nichtsdestotrotz sollte Cole in wenigen Wochen den Ritterschlag erhalten, wenn er im Erntemond sein einundzwanzigstes Lebensjahr vollendete.
Evan beschwichtigte Cyril. »Lasst Milde walten, Hochwürden. Schließlich handelt es um das Wohl seines Bruders. Da ist es nur recht und billig, dass Junker Cole aufgebracht ist. Wir sollten in dieser außergewöhnlichen Sache gemeinsam beraten, was am besten zu tun sei. Ein jeder darf frei sprechen.«
Cyril bewunderte stets, wie geschickt Evan verstand, seine Unerfahrenheit mit Großmut zu tarnen und sich dadurch Respekt bei den Männern zu verschaffen. Lord William hätte Cole hinauswerfen lassen, offene Mitsprache in wichtigen Belangen wäre kaum denkbar gewesen, höchstens leise Ratschläge hinter vorgehaltener Hand.
»Möglicherweise wurde das Pferd erschreckt und ist mit Sir Vance durchgegangen«, mutmaßte Sir Norwood. »Und er selbst wurde dabei abgeworfen und verletzt.«
»Das Dorf, in dessen Nähe das Ross gefunden wurde, liegt oben im Norden, weit ab des ursprünglichen Weges«, warf Cyril ein. »Vielleicht ist es schlicht davon gelaufen.«
»Oder es wurde gestohlen, während es in einem Stall von Haverfordwest untergebracht war«, schlug Raven vor. Der dunkelhaarige Junker war der jüngste unter den Männer, ein äußerst hübscher Bursche mit hellen blauen Augen, vollen Lippen und starkem Ausdruck. Wenn er durch die Gassen von Castellyn schritt, drehten die Weiber sich um, ganz gleich, welchen Alters sie waren.
»Das ist ein kluger Gedanke«, meinte Lord Evan.
»Und warum hat sich Sir Vance nicht ein neues Pferd beschafft und ist nach Castellyn zurückgekehrt?«, entgegnete Sir Byron. Seine Stimme hallte tief aus einem immensen Brustkorb. Durch seine überragende Erscheinung wirkte der rotblonde, langbärtige Ritter selbst dann furchteinflößend, wenn er jedermann wohl gesonnen war. Bedingt durch einen ähnlich mächtigen Bauchumfang hatte Byron für ein neues Kettenhemd zuletzt zwanzig Shillinge berappen müssen, fast das Zweifache von dem Preis, den ein Kämpfer üblicherweise zahlen musste.
»Vielleicht wurde er in der Stadt überfallen und ihm ein Leid zugefügt«, konterte Raven.
»Auf jeden Fall müssen dort weitere Nachforschungen angestellt werden!«, entschied Lord Evan. »Sir Norwood, Ihr werdet das übernehmen, Ihr reitet nach Haverfordwest; drei weitere Männer sollen Euch begleiten, damit die Stadt zügig erkundet wird.«
»Sehr wohl, Mylord. Ich werde sofort aufbrechen.« Mit diesen Worten verbeugte sich Sir Norwood und verließ starken Schrittes die Halle. Lord Evan wandte sich an Cole.
»Und Ihr, Junker Cole, sucht auf den Straßen zwischen Haverfordwest und Glynllys. Es scheint naheliegend, dass Sir Vance auf diesen Wegen ein Unglück widerfahren ist. Zwar seid Ihr noch kein führender Kopf der Gefolgschaft, da die Zeit bis dahin jedoch nicht mehr lange währt, betraue ich Euch mit dieser Aufgabe. Nehmt Junker Raven mit Euch, und auch Sir Byron möge Euch zur Seite stehen.«
»Wie Ihr befehlt, Mylord, ich danke Euch für Euer Vertrauen.« Cole verbeugte sich tief. Sir Byron hingegen rollte mit den Augen; er hatte sichtlich wenig Freude an der Vorstellung, dass der Jungspund den Suchtrupp anführen sollte. Lord Evan nickte ihm wohlwollend zu, Sir Byron bestätigte dies mit einem Seufzen.
»Nun denn, zu den Pferden, Junker!« rief er, woraufhin jeder einzelne sich mit einer Verbeugung vom Grafen verabschiedete. Nachdem die Gefolgsleute die Halle verlassen hatten, blieb Cyril mit Evan allein zurück.
»Glaubt Ihr, Mylord, die Erkundungen werden erfolgreich sein?« Cyril versuchte, die Regungen im Gesicht seines Grafen zu deuten.
»Ich schwanke, was ich glauben soll - oder hoffen. Alles erscheint äußerst eigentümlich, umsponnen mit einem Hauch von Verhängnis. Unter uns gesprochen, Hochwürden - ich habe kein gutes Gefühl.«
»Womöglich wäre es das Beste, wenn auch ich mich umhöre«, meinte Cyril. »Längst habe ich den üblichen Ritt zu Pfingsten vorbereitet. Unter diesen Umständen wäre es eine zusätzliche Möglichkeit, in den Gemeinden etwas in Erfahrung zu bringen.«
»Gewiß, Hochwürden, das solltet Ihr tun! Falls unsere Bemühungen jedoch erfolglos bleiben, und wir in zwei Tagen noch immer keine Nachricht von Sir Vance haben, zwingt mich die Not, einen Reiter zur Burg Carreglas zu schicken. Falls Sir Lenox es nicht zuvor aus anderer Quelle erfährt, bin ich verpflichtet, ihn in Kenntnis zu setzen, dass sein ältester Sohn ernstlich vermisst wird.«
Cyril zog die Augenbrauen hoch. »Woraufhin er hier erscheinen wird, befürchte ich.«
Evan sah ihn verkniffen an. »Ja, das befürchte ich auch.«
Verschwinde, Gavin!« Die beleibte Landfrau mit dem sonst heiteren Gesicht sah finster drein. Es war Rowena vom Bronllys Hof, dem zweitgrößten Pachtgut in Hencod. Das Zornesrot auf ihren runden Wangen ließ ihre Rise weißer strahlen, jenes dünne Leintuch, das von einer Schläfe zur anderen an die Haube gebunden ihr hübsches Gesicht umschmeichelte und darunter ein kräftiges Doppelkinn verbarg. Der Kesselflicker war um ihr Gemüsefeld geschlichen, jetzt zog er den Kopf ein und trollte sich zu seinem Karren, der nahe dem Hofzaun abgestellt war. Rowena stemmte die Fäuste in ihre mächtigen Hüften.
»Die Kessel, die du flickst, halt'n nich' lang'«, rief sie Gavin hinterher. »'n Jammer, dass dein Weib tot is' – sonst wärste nich' kurz vorm Verhungern. Aber auch wir hab'n nix zu verschenk'n.« Bevor Gavin etwas erwidern konnte, wandten beide die Köpfe und blickten hinüber zum Anger, da entfernter Hufschlag sie neugierig aufmerken ließ. Sogleich sahen sie im frühlingshaften Sonnenlicht, wie sich drei Reiter auf der Dorfstraße näherten, alle im Livree von Cyfrinshire, den blau-weißen Waffenröcken des silbernen Drachen. Auch Sir Byron befand sich unter ihnen, der Grundherr von Hencod. In Sichtweite zum Hof zügelten die Männer ihre stattlichen Pferde und lenkten sie unter die große Eiche, die in der Mitte des Dorfangers wuchs, zwischen dem schlichten Kirchenbau und einem großen Forellenteich.
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