Vom Schicksal beschützt, vom Zufall verraten.
Wales 1344
Auf einem nächtlichen Streifzug durch den Alten Steinwald entdeckt Landmann Rees die Folgen einer abscheulichen Missetat. Die Begegnung mit einer jungen Frau verknüpft dabei sein Leben mit dem ihren und besiegelt ein geheimes Bündnis, das vom ersten Augenblick an durch starke Zuneigung bestimmt wird. Unterdessen lässt Lord Evan nichts unversucht, den Befehlshaber seiner Stadtwache aufzufinden, der auf unerklärliche Weise verschwunden ist. Engster Berater des jungen Lords ist Pater Cyril, der schwer an verschwiegenen Bürden trägt und nicht glauben will, dass sein Bruder Rees mit dem Geschehen verhängnisvoll verwoben ist. Doch auch der hitzköpfige Cole macht sich auf die Suche...
So manches Mal wird der Lauf der Geschichte durch einen schwarzen Wolf gelenkt. Als Letzter seiner Art streift er einsam durch die Wälder von Wales und sein unvermutetes Erscheinen entscheidet oftmals über Leben und Tod.
Kristin Veronn
Wolfes Schuld
Historischer Roman
Originalausgabe
1. Auflage 2018, Version 1.1
Copyright © 2017 by Kristin Veronn
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Stetig muss die Seele wandern
hoffend auf den Blick der andern
zieht rastlos über Zeit und Raum
spricht flüsternd aus so manchem Traum
flüchtet sich in stille Wesen
kann Jedermannes Sprache lesen
Aus dunklen Tiefen sie erzählt
den rechten Weg durch fremde Welt
Bis sie lichte Augen schaut,
worin sie sich geborgen glaubt...
Wales 1344
Ostermond
Rees horchte auf. Geduckt hockte er neben einem Dornbusch und ließ den Blick langsam über die Umrisse des nächtlichen Waldes gleiten. Eine Weile betrachtete er wachsam, wie das Licht des Mondes silbrig zwischen den schwarzen Stämmen zerfloss. Nur leichtes Wispern drang an sein Ohr, ein milder Nachtwind, der in den kahlen Wipfeln einen langen, harten Winter verabschiedete. Keinerlei Bewegung war zwischen den Bäumen erkennbar, keine Veränderung der Schatten, und so richtete er seine Aufmerksamkeit erneut auf das warme, weiche Fell in seiner Hand.
Dem Kaninchen wäre die Flucht fast gelungen, hätte es das Gebüsch frühzeitig erreicht, aber der Schuss eines walisischen Bogenschützen war schnell, präzise und hart. Vorsichtig zog Rees den Pfeil aus dem leblosen Leib, säuberte die Holzspitze mit feuchtem Laub und band die Hinterbeine zusammen, damit er das Tier an seinem Beutestock befestigen konnte. Den Pfeil steckte er zurück in ein Sackleinen, das unter dem dunklen Umhang auf seinen Rücken gebunden war. Ohne einen Laut nahm er den Jagdbogen vom Boden auf und erhob sich, wobei die erlegten Tiere an dem Stock über seiner Schulter baumelten. Für einige Mahlzeiten würde es reichen. Zur nächsten Jagd würde er wieder im fahlen Grau des Morgens aufbrechen müssen, der Mond wäre dann nicht mehr hell genug. Doch am liebsten jagte er in wolkenlosen Vollmondnächten, denn es verbesserte Augenmerk und Treffsicherheit, zudem blieb er meist für sich.
Als Rees das Geräusch ein weiteres Mal vernahm, war sein Gehör darauf vorbereitet. Instinktiv drehte er den Kopf in jene Richtung, aus der es zu kommen schien. Im Gegensatz zu den vertrauten Klängen des Waldes erregten die Laute seine Besorgnis; er wähnte sich nicht länger allein. Anfangs schlug Rees den Weg nur zögernd ein. Geächtete trieben in den Wäldern ihr Unwesen und stets bestand Gefahr, dem eigenen Unheil in die Arme zu laufen; manche waren zu Unrecht verstoßen und harmlos, andere waren brutale Diebe und Mörder. Jedoch zog ihn ein eigenartiges Gefühl dorthin, fern gewöhnlicher Neugier, ein Gefühl stärker als seine Besonnenheit. Schritt für Schritt, mit den geduldigen Bewegungen eines Jägers, setzte Rees die Sohlen kaum hörbar zwischen Laub und morsche Zweige. Bisweilen drangen die Laute jedes Mal ein wenig deutlicher an sein Ohr und vergewisserten ihm den Weg. Bald hatte er den Rand einer vertrauten Mulde erreicht, wo der Mondschein freie Sicht über dicht stehende Büsche und wucherndes Brombeergestrüpp gewährte.
Inmitten dieser Senke stand ein weißes Reitpferd von enormer Größe, prachtvoll aufgezäumt und zum Ritt gesattelt, und tänzelte vor einem niedrigen Busch unruhig hin und her. Gelegentlich wieherte es oder schnaubte leise, entfernte sich jedoch nicht von jener Stelle. Im farblosen Licht der Nacht waren die Wappenfarben der Satteldecke nicht eindeutig zu benennen, aber Rees glaubte zu wissen, dass es die Livree von Cyfrinshire war. Für einen Moment blieb er reglos und lauschte im Schutze der nahestehenden Bäume. Da er kein Anzeichen von Bedrohung erkennen konnte, rutschte er leise über den niedrigen Abhang und schritt vorsichtig auf das Ross zu. Möglicherweise war es schlicht davongelaufen.
Wie er sich näherte, entdeckte Rees im Unterholz, unmittelbar neben dem Pferd, den Körper eines großen, stattlichen Mannes. Leblos auf dem Rücken, mit schreckgeweiteten Augen lag er da, niedergestreckt von einem Dolch, der seitlich tief in seinen Hals getrieben war. Es musste bereits einige Zeit vergangen sein, seit er dem qualvollen Tod erlegen war, der Hieb war schlecht gesetzt und das Blut bereits eingetrocknet. Am Wappen des silbernen Drachens auf der blau-weißen Tunika, die der Tote über dem Kettenhemd trug, war der Mann eindeutig als Gefolgsmann des Grafen zu benennen, und der kostbaren Stickerei nach zu urteilen handelte es sich um einen Ritter von hohem Stand. Mantel und Schwert jedoch fehlten, und äußerst seltsam bei dem blutigen Anblick, fast lächerlich neben all der Grausamkeit, war der Umstand, dass der untere Leib des Mannes entblößt war; die Beinkleider waren heruntergelassen und hingen lose um seine Fußgelenke. Als Rees ein weiteres Mal in das vom Tode verzerrte Gesicht blickte, erkannte er darin den Befehlshaber der Stadtwache von Castellyn, Sir Vance von Carreglas. Unversehens durchfuhr kaltes Grauen sein Herz. Wenn Rees hier, bei dem Toten, gefunden würde, drohte ihm der Strang. Niemals würde er beweisen können, dass nicht er der Meuchler war. Womöglich waren bereits Reiter ausgesandt, den Hauptmann zu suchen, die Straße nach Castellyn verlief nicht fernab.
Trotz aller Furcht, die ihn ergriffen hatte, befahl Rees sich, Ruhe zu bewahren. Keinesfalls durfte er davonlaufen, sondern musste lautlos davonschleichen wie er gekommen war. Mittels starker Anspannung versuchte er, die Heftigkeit seines Atems zu zügeln. Vorsichtig schaute er nach allen Seiten, um sicher zu gehen, dass er nicht beobachtet wurde. Dabei entdeckte er das Schwert zuerst. Nur wenige Schritte abseits, auf der durch Schatten verdunkelten Seite, lag es mitsamt Ledergurt auf dem achtlos ins Laub geworfenen Mantel. Und dann sah er sie.
Um es sich leicht zu machen, hatte ihr Peiniger die junge Frau zu Beginn der Tortur an einen verrottenden Baumstamm gebunden, die Arme weit nach hinten über den Kopf gestreckt. Ihre Kleider waren längs über Brust und Bauch aufgeschlitzt, sauber geführt mit Schwert oder Dolch, wobei die scharfe Spitze der Waffe dunkle Schnitte in ihrer weißen Haut hinterlassen hatte. Rees ahnte, wie schwer sie geprügelt und durch das Unterholz geschliffen worden sein musste. Der Stoff und das lange, wellige Haar waren verdreckt mit Laub und Erde und unter dem völlig zerzausten Schopf war ihr kleines Gesicht kaum mehr zu erkennen, so stark war es durch Prellungen geschwollen.
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