Darüber hinaus gab Cyril dem unerfahrenen Evan einen wichtigen Rückhalt, seitdem der ehrenwerte Lord William gefallen war. Da es dem jungen Grafen in der Ausführung öffentlicher Angelegenheiten oftmals an Sicherheit mangelte, half Cyril beim Verfassen wichtiger Schriften und stand bei rechtlichen Verhandlungen stets an seiner Seite. Evan war äußerst dankbar, dass der Geistliche, der kaum zehn Jahre älter war als er selbst, in gewisser Weise jene schmerzliche Lücke füllte, die der frühe Tod des Vaters gerissen hatte. Im Zuge all dessen wurde Cyril für Evan ein verläßlicher Freund sowie Berater, wenn auch die beiden Männer nicht immer dieselbe Meinung teilten.
Am diesem Morgen genoß Evan sichtlich, wie die gewinnende Kraft der blassen Frühlingssonne erstmals wieder sein Gesicht wärmte. Zur dieser Stunde fielen die Strahlen geradewegs durch die oberen Fenster des nördlichen Gebäudes. Dennoch war der junge Mann überaus missgestimmt.
»Bereits am gestrigen Abend hätte Sir Vance zurückkehren sollen!« Im Grün seiner klugen Augen blitzte Verärgerung auf.
Obgleich in vielen Adelshäusern die Konversation noch immer auf Französisch geführt wurde, sprach Evan mit Cyril Englisch, genau wie sein Vater zuvor. Cyril stimmte es freudig, dass die gemeine Sprache des Volkes an Gewicht gewann. Der König selbst bevorzugte das Englische, obschon er Französisch als Muttersprache erlernt hatte.
»Ich befürchte, Mylord, dieses Mal werden wir eine Eskorte nach Haverfordwest entsenden müssen, um Sir Vance aus dortigen Hurenhäusern zu zerren.« Cyrils Erwiderung klang gleichmütig.
»Mir wurde berichtet«, gab Evan wieder, »dass in unserer Stadt kaum eine Metze mehr bereit ist, mit Vance das Lager zu teilen - für kein Gold der Welt. Doch manches Mal erkennen die Weiber zu spät, auf wen sie sich eingelassen haben.«
Bis zu einem gewissem Punkt teilte Cyril die Meinung seines Grafen. »Hier in Castellyn werden sie ihn ausmachen, vielleicht sogar in ganz Cyfrinshire, selbst wenn er im schlichten Gewand erscheint. Daher kam ihm ein Botengang außerhalb der Grafschaft gewiss sehr gelegen. Leider gibt es viele Weiber, denen keine andere Wahl bleibt; sie müssen jedes Wagnis eingehen. Und seid versichert, Mylord, Sir Vance findet stets verwahrloste Gassen, wo ihm das Elend in die Hände spielt; bei solchen, die nichts von seiner unberechenbaren Neigung wissen.«
Indes Cyril behutsam das fertiges Pergament einrollte und mit einem Lederband umwickelte, betrachtete er versonnen das wohlgestaltete Gesicht des jungen Grafen. Noch hatten die wenigen Lebensjahre keine Spuren in seinen jugendlichen Zügen hinterlassen. Im Licht der Sonne schimmerte sein kinnlanges, braunes Haar fast blond, und einen Augenblick lang erschien Evan trotz sauber gestutztem Bart unwirklich wie ein Engel. Der dunkelgrüne Samt seines gesteppten Wams, dessen goldene Knopfleiste bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, betonte die Farbe von Evans sanften Augen.
Wonne und Wehmut zugleich durchfluteten Cyrils Seele, denn er liebte dieses junge Gesicht. Wenn er hingegen seinem eigenen Antlitz in einer Spiegelung begegnete, so betrübte ihn der Anblick stets aufs Neue. Helles kupferrotes Haar umrandete seine Tonsur und klebte ihm in kurzen Strähnen dicht am Kopf, seine Nase wirkte plump und sein Mund weibisch, lediglich die großen, wasserblauen Augen brachten eine gewisse Anmut in das breite Gesicht. Die helle Haut war übersät mit kleinen rotbraunen Flecken, darunter war sie farblos und wirkte durch das harte Schwarz seines Habit derart blass, als würde das Leben durch ihn hindurch scheinen. Ein bleicher Geist, dem es auf ewig versagt bleiben würde, zu leben wie er empfand; denn als größten Makel quälte Cyril, dass er von männlicher Natur war.
»Es ist einfach widerlich!«, entfuhr es dem Grafen unvermutet. »Stets frage ich mich, was der Anlass für solch zügelloses Wesen sein mag. Warum prügelt Vance die Frauen? Bereitet es ihm Genuß?« Fragend blickte er zu Cyril. »Und wieso läßt der Herrgott so etwas geschehen, Hochwürden?«
»Richtig gefragt wäre, warum Ihr es geschehen lasst, Mylord«, korrigierte Cyril ihn vorsichtig. »Ist es im Sinne Gottes, wenn ein Graf seinen Mannen solche Untaten durchgehen läßt? Ihr solltet mehr Respekt und Anstand einfordern.«
»Was könnte ich dagegen tun?« Evans Erwiderung enthielt kaum Trotz, wusste er doch sehr wohl, dass Cyril recht hatte. »Einem Schlachtroß werden mehr Rechte zugesprochen als einer Hure. Vermutlich würde hinter meinem Rücken gelacht.« Cyril seufzte und nickte betroffen.
»Gott sei's gedankt, dass es nur selten geschieht«, schloss Evan. »Und keine ist je zu Tode gekommen.« Cyril Blick verfinsterte sich und er sah den Grafen prüfend an.
»Seid Ihr sicher, Mylord!?« Unschlüssig zuckte Evan mit den Schultern. Cyril konnte dies nicht auf sich beruhen lassen.
»Kaum eine Handvoll Jahre sind seither verstrichen, Mylord. Vermutlich erinnert Ihr Euch. Ihr selbst wart - fast dreizehn Winter alt? Aus meinem Dorf wird keiner diesen Morgen jemals vergessen - ganz gleich, wie viele Jahre vergehen mögen.«
An jenem Sommermorgen hatte die Hitze bereits diesig über den Feldern am Fluss gestanden, als einige Landleute aus Hencod die geprügelte Frau tot aus den Fluten des Awen zogen. Zur gleichen Zeit war Cyril mit einem Bündel über der Schulter unterwegs, die Pflicht berief ihn zurück nach St Davids. Nur wenige Tage hatte er damals in Hencod geweilt, um dafür zu sorgen, dass sein Vater, der alte Mabryn, ein angemessenes Begräbnis bekam. Seit dem Tode der Mutter war Mabryn mehr und mehr zum Trunkenbold geworden. Eines Tages konnte er nur noch tot geborgen werden, nachdem er volltrunken vom Scheunenboden gestürzt war. Auf seinem Rückweg entlang des Flusses kam Cyril ein aufgebrachter Fischer entgegen, packte ihn grob beim Arm und schrie ihm die grauenvolle Entdeckung ins Gesicht. Und Cyril ging hinunter ans Ufer, um zu schauen; um die gepeinigte Frau mit den schützenden Worten eines Gebets in die Hände Gottes zu geben; um die armen Landleute zu beruhigen; um ihnen allen beizustehen, der Toten sowie den Lebenden, die sie umringten. Niemals würde er den Anblick aus seinen Erinnerungen wischen können. Das Mädchen hatte so wunderbar rotes Haar, dunkel wie Blutbuche.
»Das Urteil oblag damals Eurem Vater.« Cyril wusste wohl, dass der angedeutete Vorwurf Evan aufbringen würde.
»Mein Vater gab damals eine öffentliche Erklärung ab.« Evans Stimme hob sich. »Vance konnte nichts nachgewiesen werden.«
»Weil er mögliche Zeugen zum Schweigen gebracht hat, mit Münzen - oder Schlimmerem.« Cyril war nicht bereit, von seiner Überzeugung abzurücken, seine Stimme hallte lauter. »Doch der Leib der jungen Frau trug seine Handschrift. Ein jeder ahnte, dass er dieses Mal zu weit gegangen war.«
Evan ließ sich nicht drängen, jene Entscheidung aus der Vergangenheit, die nicht einmal seine eigene war, zu rechtfertigen. Statt dessen untermauerte er den Nutzen des gegenwärtigen Zustands. »Eingesetzt von meinem Vater, Hochwürden, ist Sir Vance Befehlshaber der Stadtwache, und unser bester Mann im Kampfe. Wir brauchen ihn.« Vance war ein bemerkenswerter Kämpfer, kaum zu besiegen, das stand außer Frage. Überdies stets höflich und mit tadellosen Manieren erschien er recht charmant, im Gegensatz zu der vorlauten Art seines jüngeren Bruders Cole.
»Dann sollten wir nicht weiter mutmaßen, sondern hoffen, dass der unverzichtbare Ritter sich im Zaume hält.« Cyril lag es fern, den Unwillen seines Grafen herauszufordern. Versöhnlich reichte er Lord Evan den Federkiel. »Würdet Ihr bitte unterzeichnen, Mylord.«
Nachdem Evan eine vereinbarte Erbschaftsregelung mit seiner Unterschrift beurkundet hatte, nahm Cyril das Schriftstück, streute ein wenig Sand darüber, um die Tinte zu trocknen, und versiegelte es schließlich. Evan wandte sich erneut ans Fenster und blickte hinaus.
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