»Hab' noch nie 'nen Wolf geseh'n.« Zu jener Zeit waren die Leute unkundig, was den Anblick eines Wolfes betraf, war er doch in den Wäldern kaum mehr zu finden, so gnadenlos hatte der Mensch ihn gejagt. Dennoch gab es zweifelsohne einen Wolf im Alten Steinwald, falls das Tier nicht längst gen Norden zu seinesgleichen gewandert war. Almina war ihm ein einziges Mal begegnet. Damals war das Tier noch jung und tapsig gewesen, tiefschwarz war sein dichtes Fell und es wirkte wohl furchteinflößend, mit Augen wie geschliffenes Malachit. Niemandem hatte sie davon erzählt, insbesondere nicht der Schwester, da sie ahnte, was es bedeutet hätte. Almina begann zu schimpfen.
»Grausame Kreatur'n, de Jungfrau'n in Höhl'n schlepp'n! Gleichwohl's bei dieser Frau bestialisch aussieht, kann's nur eine Art von Tier tun, und zwar das im Manne! Oder wahrhaftiger, der Teufel in ihm, denn Getier is' von Natur aus weder gut noch bös'.« Eindringlich sah sie ihre Schwester an. »Glaubste denn wirklich solch Schauergeschicht'n?«
»Nee, Recht haste, wie immer. Is' töricht. Aber wenn mir sonst nix bleibt?« Almina wusste, darin lag das Unglück. Voller Mitgefühl fasste sie Gwenifer am Arm, Verständnis hatte ihren Zorn beschwichtigt.
»Ich dank' dir recht herzlich, Gwenifer. Und bitt' dich, liebe Schwester, erzähl' keiner Menschenseele, was gescheh'n is'. Auch nicht dem Siorus.«
Von der Pforte sah Gwenifer ihr nach. Almina spürte dies, obgleich sie es nicht sehen konnte. Reglos und verloren würde die Schwester auch dann noch dort ausharren, wenn Almina ihrem Blick längst entschwunden war. Wie oft hatte Gwenifer an dieser Stelle gestanden und gehofft, ihr kleines Mädchen würde eines Tages auf diesem Weg zurückkommen. Gewiß war es ein unerträgliches Greuel, welches jener fremden Frau letzte Nacht widerfahren war. Doch für Gwenifer würde es kaum ein Trost sein, dass der Schänder zu Tode kam, denn ihren unendlichen Schmerz konnte dies nicht lindern.
Cyril ap Mabryn stand am Schreibpult und tauchte sorgsam den Federkiel in ein Tintenfaß, bevor er das nächstfolgende Wort auf ein Pergament schrieb. Er war dankbar für die wollenen Beinlinge unter seinem schwarzen Habit und die festen Lederschuhe an seinen Füßen, denn die Holzladen der hohen Burgfenster standen weit offen und das zaghafte Feuer im Kamin vermochte der kühlen Frühlingsluft keine ausreichende Wärme entgegenzusetzen; allerdings brachte die frühe Mittagsstunde nicht nur Kälte mit sich, sondern auch ein helles und freundliches Licht. Gelegentlich hob Cyril den Blick und schaute hinüber zur Fensterfront der Stube. In einer der Nischen lehnte halb sitzend der junge Graf Evan und beobachtete vom oberen Stockwerk das rege Treiben im schattigen Burghof. Allmorgendlich übten sich dort die Gefolgsleute der Grafschaft Cyfrinshire im Schwertkampf und mit jedem Hieb hallte das Klirren von Stahl zu ihnen herauf. Neuerdings wurden die Kettenrüstungen der Ritter an wichtigen Stellen durch Platten verstärkt, was den Kampf ohne Schild ermöglichte; derart gerüstet erprobten die Männer am heutigen Tage die neuen Langschwerter, die aufgrund von Größe und Gewicht nur mit beiden Händen zu führen waren.
Die Festung zu Castellyn war keine Stadtburg im üblichen Sinne, sie lag außerhalb der großen Siedlung, die denselben Namen trug. Erbaut auf den flachen Felsen einer niedrigen Anhöhe stand sie in einer Biegung am südlichen Ufer des Flusses Awen, der sich an dieser Stelle von Osten durch die weite Ebene schlängelte. Zu Beginn stand die rechteckige Anlage allein, umgeben von vereinzelten Landhäusern und weitläufigen Wiesen und von jeher bewacht von den Zinnen der vier mächtigen Rundtürme. Doch über die Jahrzehnte siedelte immer mehr Volk an dem fischreichen Gewässer und so war eine Viertelmeile südöstlich der Burgmauern eine Stadt herangewachsen.
Einziger Zugang zur Burg war das Haupttor auf der Ostseite, das nur über eine schmale Vorburg erreicht werden konnte, die sich vom südlichen Wehrturm bis zum nördlichen Flügel zog. In diesem vorgelagerten Schutzbau befanden sich hinter niedrigen Mauern die Schmiedestätten und ein Backhaus sowie die Stallungen für Pferde und Fuhrwerk. Dahinter erhob sich das beeindruckende Mauerwerk des Ostflügels mit einem fünfkantigen Kapellenturm, der weithin sichtbar in den Hof der Vorburg ragte. Die Wohnbauten der Nord- und Westflanke besaßen keinen äußeren Zugang und wurden zusätzlich durch die Biegung des nahen Flußlaufs geschützt. Auch im südlichen Mauerwall gab es kein Tor, das die Wehrhaftigkeit beeinträchtigen konnte. Zudem hatten es die Burgherrn stets für sinnvoll erachtet, dass die Festung für sich blieb und nicht durch nördliche Ausdehnungen der Stadt in deren Mauern einbezogen wurde. Somit erstreckten sich weitere Ansiedlungen ostwärts und entlang des Flusslaufs, der ursprünglich von Süden kam. Die Stadt erhielt eigene Wehrtürme und Mauern, von deren nördlichem Zugangstor ein gewundener Hauptweg bis zum Torhaus der Vorburg führte.
Erneut blickte Cyril auf und legte die Feder aufs Pult. Das Schreibwerk war fertiggestellt und musste einen Moment trocknen. Schweigend betrachtete er die jungenhafte Gestalt des Grafen. Mehr als ein Jahr war bereits vergangen, seit Evans Vater, der ehrbare Lord William, vor den Toren einer französischen Stadt den Tod gefunden hatte. Als getreuer Vasall war er damals seiner Verpflichtung nachgekommen, den König beim Einmarsch in die Bretagne zu unterstützen. Die Machtverhältnisse in diesem Herzogtum waren ständig umstritten und König Edward wollte Vannes zurückerobern, um bei der Fehde wieder die Oberhand zu gewinnen. Deshalb landetet Lord William im Nebelmond 1342 in Brest, auf einem Schiff mit walisischen und englischen Bogenschützen, denen seit der siegreichen Seeschlacht von Sluis ein furchteinflößender Leumund vorauseilte. Kaum hatte das englische Herr die besagte Stadt erreicht, schickte der König von Frankreich, Philip VI., zu ihrem Schutz ein mächtiges Heer, unter dem Befehl des Herzogs der Normandie. König Edward blieb nicht anderes übrig, als seine Truppen bestmöglich zu befestigen und abzuwarten. Nach einigen Wochen entsandte der Papst zwei Kardinäle als Legaten, die zwischen den Heerführern Friedensbedingungen aushandeln sollten. Anfangs zeigten sich beide Seiten verstockt, und immer wieder gab es zwischen den Truppen kleinere Gefechte. Erst mit der Zeit brachten die zermürbenden Zustände in den Lagern die Befehlshaber zur Vernunft. Es regnete unaufhörlich, Mensch und Tier wurden krank und die Franzosen hielten die Versorgungswege zum Meer bewacht. Zu allem Unglück wurde Lord William zum Ende der Belagerung schwer verwundet und erlag nach wenigen Tagen des Hoffens und Bangens seinen Verletzungen - kurz bevor König und Herzog im Eismond des Jahres 1343 auf eine fragile Waffenruhe von drei Jahren schworen.
Am Tage der Trauerbotschaft stand Evan plötzlich allein und sah sich, mit siebzehn Wintern und ohne jegliche Erfahrung, den Aufgaben eines gräflichen Lehnsherren gegenüber. Traditionell wäre ihm der Lebensweg eines Ordensbruders vorgezeichnet gewesen, da er in der Erbfolge an zweiter Stelle geboren war. Doch bereits in jungen Jahren hatte sein älterer Bruder Oswin den Vater um Erlaubnis gebeten, an seiner Statt dem Augustinerorden der nahegelegenen Haverfordwest Priory beitreten zu dürfen. Lord William hatte Oswin seinen tief frommen Wunsch gewährt, großmütig und in stiller Dankbarkeit, zumal Evan in Temperament und Geschick seit jeher in der Nachfolge passender erschienen war.
Ehemals war auch Cyril ein Bruder dieser Ordensgemeinschaft. Nach einigen Jahren des klösterlichen Studiums musste er feststellen, dass er mehr den weltlichen Dingen zugewandt war als innerer Einkehr. So beschloß er, die Abtei wieder zu verlassen. Auf Veranlassung des Priors verbrachte er daraufhin einige Zeit in der brüderlichen Gemeinschaft von St Davids, wo er auf eigenen Wunsch von Bischof Henry Gower höchstselbst zum Priester geweiht wurde. Kurz darauf berief dieser ihn zum Dekan von Cyfrinshire, und seit bald drei Wintern oblag Cyril nun schon die verantwortungsvolle Aufgabe, von seinem Amtssitz in Castellyn die angeschlossenen Pfarrgemeinden zu beaufsichtigen und dem Bischof entsprechend Bericht zu erstatten.
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