Kaum hatten sich ihre schwachen Augen an das schummrige Licht der glimmenden Feuerstelle gewöhnt, als lautes Klopfen durch die alten Holzwände dröhnte und Almina zu verstehen gab, dass die Geräusche aus ihrem Traum nicht bloße Einbildung waren. Mit starker Faust schlug jemand heftig gegen die morsche Tür. Indes sie beschwichtigende Worte rief, quälte Almina ihre schmerzenden Knochen von dem niedrigen Strohlager.
»Is' ja gut, is' ja gut! Ich komm' ja schon.« Die Glut verbrannte ihr ein wenig Haut, als sie mit zittriger Hand nach einem Kienspan fingerte. Sie brauchte einige mißglückte Versuche, die Kerze zu entzünden, und hängte sich dann mit stockenden Bewegungen ihren zerschlissenen Mantel um. Für den nächtlichen Besucher musste eine Ewigkeit des Wartens vergehen. Als Almina die Tür fast erreicht hatte, hämmerte es erneut gegen das Holz, und die Schläge erstarben erst, als sie endlich den Riegel beiseite schob. Beim Öffnen der Tür schlug Almina leichter Regen entgegen und sie hielt schützend die Hand vor die Flamme.
Im windigen Dunkel vor ihrer kleinen Hütte stand Landmann Rees Tawel und blickte tief besorgt auf sie herab. Das leicht gewellte Haar des hochgewachsenen Mannes glänzte schwarz im flackernden Lichtschein und hing in feuchten Strähnen bis auf die kräftigen Schultern. Nach dem langen Winter war sein Gesicht noch schmaler, die sonnengefleckte Haut spannte sich über knochige Wangen und seine wachsamen Augen schienen tiefer unter den breiten, dunklen Brauen zu liegen.
»Rees, mein Junge, komm' rein.«
Eisig wallte feuchte Luft hinein, und noch in den Worten kehrte sie der offenstehenden Tür den Rücken und schlurfte hinüber zu einem freistehenden Tisch im hinteren Teil der Hütte. Dort entfachte sie mit der einzelnen Flamme weitere Stumpen, die aufgereiht auf einem Brett standen, das einige Zoll breit oberhalb einer weiteren Tischplatte an der Wand befestigt war. Zunehmend breitete sich ein schwacher Widerschein über unzählige Flaschen, Holzschatullen, Schalen und Phiolen aus, die all überall verteilt standen. Nachdem Rees sichtlich erschöpft in die Hütte gestolpert war und die Tür verriegelt hatte, spürte Almina, wie Angst und Rastlosigkeit den niedrigen Raum erfüllten.
Ruhig wandte sie sich ihm zu. »Was is' passiert, haste dich verletzt?« Als Rees ihren Blick fing, begann er wild mit den Händen zu erklären. Dabei griff er häufig an seinen dichten Bart, der im Kontrast zum dunklen Schopf rotbraun schimmerte; sein keltisches Erbe ließ sich nicht verleugnen.
Manches Mal empfand Almina es als schwierig, sich mit dem wortlosen Mann zu verständigen. Vorerst konnte sie aus seinen aufgeregten Handzeichen nur entnehmen, dass sie mit ihm kommen sollte. Zumeist deutete sie seine Zeichen richtig und hatte längst gelernt, gezielt Fragen zu stellen. Anscheinend kam er mit dieser Art gut zurecht, und da er einst hatte sprechen können, formte er manche Worte mit den Lippen.
»Ich versteh' schon - im Dorf is' jemand verletzt.« Diese Überlegung kam ihr zuerst. Rees verneinte es mit einem Kopfschütteln.
»Auf'm Hof?«, wollte sie erstaunt wissen. Er nickte.
»'n Kerl?« Erneut schüttelte Rees den Kopf. Ein bekanntes Wort kam tonlos über seine bärtigen Lippen. Ungläubig sah sie ihn an.
»'nen...Weib?« In seinen Augen lag tiefe Besorgnis.
»Wo genau is' se verletzt?« Zuerst deutete er auf Gesicht und Oberschenkel, dann plötzlich erstarrte er für einen kurzen Moment in der Bewegung, senkte den Blick zu Boden und legte die Handfläche auf seinen unteren Leib.
»Geschändet...«, flüsterte Almina. Rees nickte langsam.
»Dann...haste se gefunden.« Als er aufsah, erinnerte sein Blick an jene Nacht vor mehr als zehn Wintern. Seitdem war kein Wort mehr über seine Lippen gekommen. Almina zögerte nicht.
»Schnell, hol' Lein'n auss'er Truhe drüb'n. Hat se viel Blut verlor'n?« Sein verzweifelter Blick gab ihr Antwort.
»Wir müss'n uns eil'n.« Ihre Stimme klang fest. »Ich brauch' Saft vom Hexenkraut, Nadel, Fad'n. Haste den Karr'n bei?«
Rees nickte abgewandt, den Blick in die Truhe gerichtet, aus der er sorgsam das Tuch nahm; schon oftmals hatte er bei derlei Vorbereitungen geholfen.
Almina holte ein großes Stück Sackleinen unter dem Tisch hervor und sammelte sorgsam all jene Dinge darauf, die sie vermutlich brauchen würde. Als sie sicher war, nichts vergessen zu haben, legte sie die Enden des groben Stoffs nacheinander in eine Hand, um einen Beutel zu formen, und band diesen anschließend mit einem dünnen Strick zusammen.
Als beide die Hütte verließen, hatte der Regen nachgelassen. Geisterhafte Wolkenfetzen jagten über den tief stehenden Mond, dessen kaltes Licht lange, scharfe Schatten warf. Almina fröstelte. Rees nahm ihr den Sack ab, legte ihn auf die hintere Fläche seines morschen Gefährts, und half Almina, auf den nassen Karren zu klettern. Hiernach sprang er selbst rasch auf und setzte das eingespannte Kaltblut mit leichtem Zügelschlag in Bewegung.
Almina wusste, dass Rees stolz war, neben einer gesunden Milchkuh auch ein kräftiges Pferd zu besitzen. Der Ertrag seines Hofes hätte nicht gereicht, um sich dies leisten zu können. Doch die Baumeister der Burgstadt Castellyn schätzten sein Können als Maurer, und dieser Lohn ermöglichte Rees mehr Wohlstand als ihm so mancher aus dem Dorfe zugestand. Durch sein langes Fortbleiben war Rees den Leuten fremd geworden, so ernst und stumm, selbst jenen, die sich noch gut an den halbwüchsigen Kerl erinnern konnten, der von Schmerz und Wut getrieben seiner Heimat mehr als zehn Jahre den Rücken gekehrt hatte. Erst im vergangenen Jahr, kurz nach dem Neujahrstag, der auf dem Lande mit dem Ende des Winters einherging und zu Mariä Verkündigung am fünfundzwanzigsten März begangen wurde, war Rees überraschend nach Hencod zurückgekehrt und hatte am Rande des Alten Steinwaldes jenen kleinen Hof übernommen, den alle nur Ffermunig nannten, den Hof weit abgelegen, ein verlassenes Landhaus mit wenig Acker und einem verwahrlosten Obsthain. Darüber, wo Rees all die Zeit gelebt und was er getan hatte, war nur bekannt, dass er das Maurerhandwerk erlernt und in den Wintermonden vor seiner Rückkehr für England gekämpft hatte. Gemeinsam mit etlichen anderen war Rees freiwillig den Trommeln gefolgt, als diese mit den Herbstwinden durchs Land zogen, da König Edward III. ungeachtet eines vereinbarten Waffenstillstands seine bedrohte Machtstellung in Frankreich zu verteidigen suchte. Wenig später marschierten sie auf dem bretonischen Festland ein, unter dem Befehl von Lord William, dem damaligen Lehnsherr von Cyfrinshire. Bei der Belagerung der Stadt Vannes stellte Rees sein Können mit dem Langbogen unter Beweis und als einer der Besten wurde er dadurch entlohnt, dass der Graf ihm das Land von Ffermunig als Freihufe zusicherte. Den betagten Lehnsherrn selbst sollten die Scharmützel letztendlich das Leben kosten. Damit das gegebene Versprechen des Grafen dennoch eingelöst wurde, hatte sich Cyril ap Mabryn beim Erzbischof für Rees verwendet. Der Geistliche war der jüngerer Bruder von Rees, der dem Bischof einige Zeit in St Davids gedient hatte und mittlerweile zum Dekan berufen war. Als zusätzliche Gegenleistung wurde Rees die Treue abverlangt, abermals in den Dienst Seiner Majestät einzutreten, falls es erneut zu Auseinandersetzungen mit Frankreich kommen sollte. Und dies war bereits abzusehen. Bereits im Jahre 1340 hatte Edward sich zum rechtmäßigen König von Frankreich erklärt, es bisher nicht durchsetzen können. Nur wenige ahnten, dass dieser vorgebliche Anspruch ein Grauen heraufbeschwor, das über lange Zeit französische Landstriche mit Blut tränken sollte.
Die geringe Ackerfläche von Ffermunig bewirtschaftete Rees zumeist allein. Kein anderer Landmann hatte je Bedarf an dem hügeligen Land gezeigt, zumal der angrenzende Obsthain ungeschützt am Waldrand lag und das Rotwild im Herbst die Äpfel von den niedrigen Ästen fraß. Aber Rees besaß eiserne Zielstrebigkeit; innerhalb einer Jahresfrist hatte er zum Schutze der uralten knorrigen Bäume einen Wall aus Feldsteinen und Gehölz errichtet, der ihm selbst bis zur Hüfte reichte.
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