Und nun stelle man sich vor: Ein breites blaues Band, das sich meist schnurgerade durch eine sandbraune Einöde zieht, darüber blauer Himmel, aus dem eine hinterhältige Sonne Tag für Tag, seit biblischen Zeiten, das Land versengt: „Brennend heißer Wüstensand, fern so fern dem Heimatland!“ Dieser Schmachtfetzen von Freddie, wird den Matrosen von dem erwähnten HAPAG-Schiff wohl für immer unvergesslich geblieben sein.
Freddie beiseite – auf der Brücke der RAVENSTEIN wird nicht gesungen. Da wird gerungen – um jedes bisschen Zugluft im nicht vorhandenen Fahrtwind. Ich kämpfe, mich am Steuerrad festhaltend, gegen den tückischen Sekundenschlaf, der mir immer wieder die Beine einknicken lässt. Der zweite Offizier, ein bulliger, eher wortfauler Bremer, steht in gebückter Haltung in einer der zur Gänze geöffneten Brückentüren; so als wollte er gleich mit einem mächtigen Satz direkt aus dem Stand in den Kanal springen. Der arme Kerl, eingehüllt in dunkelblaues Uniformtuch und dazu noch eine weißbezogene Schirmmütze auf dem verschwitzten Kopf, der ist ganz eindeutig noch schlechter dran als ich im liederlichen, luftigen Räuberzivil. Der vermutlich englische Lotse – jedenfalls ist er ein Weißer westlichen Zuschnitts – trägt, dem Klima entsprechend, eine leichte Tropenuniform. Trotzdem scheint er genauso geschlaucht zu sein wie der Steuermann und ich. Eine ganze Weile schon hängt er bewegungslos im hochbeinigen Lotsenstuhl und schweigt sich aus. Na ja, eigentlich gibt’s ja auch nicht viel zu sagen. Man hält als Rudergänger einfach stur auf das Hinterteil des Vorderschiffes zu. Plötzlich aber richtet sich der bislang noch immer in Hockestellung verharrende Wachoffizier auf und – springt doch nicht, sondern kommt zur Tür herein und beäugt interessiert den vor sich hindösenden Lotsen. Inzwischen aber kommen wir dem Hinterteil des Vorder… – na, Sie wissen schon – immer näher. Da tippt der Bremer, ganz die Ruhe in Person, dem Lotsen sachte auf die Schulter und sagt mit Unschuldsmiene: „Excuse me, Mr. Pilot, on which side shall we overtake?“ Cool, was?
Um auch nachts den Kanal passieren zu können, bedurfte es eines speziellen, lichtstarken Scheinwerfers. Falls er nicht schon am Schiff selbst installiert war, und zwar ganz vorne, am Steven, direkt unter der Back, wurde das klobige Teil gegen Entgelt von der Kanalbehörde gestellt. Damit wurden dann die Kanalufer aus- und das Vorderschiff angeleuchtet, um den nötigen Abstand auch einhalten zu können. Aber möglicher Weise ist das aufgrund der modernen elektronischen Geräte heutzutage nicht mehr nötig. Heutzutage denkt man daran, den Kanal auch für die Riesen unter den Tank- und Containerschiffen passierbar zu machen. Na, denn man zu…
Wir aber haben genug vom Kanal und „betreten“ das Rote Meer. Dazu eine kurze Anekdote. Ja, ja, ganz richtig, natürlich bezieht sie sich auf die sagenhafte Durchquerung des besagten Meeres durch die alten Hebräer. Kurzum: Eines Tages, Ende der siebziger Jahre, überquerte ich während eines Landgangs im Hafen von Alexandrien mit Hadi, meinem syrischen Begleiter, ein geschlossenes Schleusentor. Rein zufällig warf ich einen Blick in die fahrzeugfreie Schleusenkammer, in der vor lauter Dreck und Unrat das Wasser kaum zu sehen war. Da überkam es mich: Mir war auf einmal völlig klar, wie Moses mit seiner leichtfüßigen Gefolgschaft trockenen Fußes übers „Rote Meer“ gelangt war. Der Gedanke erheiterte mich ungemein; natürlich musste ich ihn sofort an Hadi weiterleiten. Doch dem wollte die Idee gar nicht gefallen, jedenfalls konnte er darüber nicht lachen. Entweder fehlte ihm einfach der Sinn für spekulative Analogien, oder er gedachte des schmachvollen Untergangs der pharaonischen Heerscharen. Mit Mann, Ross und Streitwagen, einfach so, von eines Gottes starker Hand gepackt und wie junge Hunde ersäuft zu werden, das kommt ja nun auch nicht alle Tage vor.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die Lektüre eines Buches mit dem einprägsamen Namen: „Und die Bibel hat doch recht“. Darin bemüht sich der Autor, den Beweis zu erbringen, dass der historische Kern der Bibel weitgehend auf Wahrheit beruht. Und tatsächlich konnte die moderne Wissenschaft inzwischen so manche biblische Aussage bestätigen. Im genannten Fall aber hilft nur die Spekulation weiter. Meine Spekulation: Beim „Roten Meer“ handelte es sich damals lediglich um ein Wadi, ein ausgetrocknetes Flussbett, das im entscheidenden Moment plötzlich voll gelaufen war.
Aber auch diese Version wollte Hadi, der nach europäischen Maßstäben in Bremen zum Nautiker ausgebildet worden war, nicht so recht gefallen. Im Gegenteil, so ganz unverhofft von einer schmutzigen, lehmbraunen, alles mit sich reißenden Flut überrascht zu werden, das ist auch nicht unbedingt ein ruhmreiches Ende für eine kaiserliche Eliteeinheit: „Stimmt“, sagte ich, „aber zum einen bist du kein Ägypter und zum anderen – was geht uns das heute noch an?“ Darauf Hadi: „Das geht uns sehr wohl etwas an, meinst du denn nicht, dass es für uns besser gewesen wäre, wenn damals anstatt der Ägypter die Juden ersäuft worden wären?“
Ich war perplex, so etwas aus dem Munde dieses sonst so freundlichen Menschen zu hören, verunsicherte mich nicht wenig. „Aber“, meinte ich fast schüchtern, „falls es stimmt, was in der Bibel steht, dann waren es die Juden, die vom Pharao verfolgt wurden, und was bleibt einem gerechten Gott schon anderes übrig, als sich für die Schwachen einzusetzen?“ – „So“, sagte Hadi, „auf welcher Seite war dann denn in Auschwitz der gerechte Gott, war er da nicht ganz und gar auf unserer Seite?“ Auf unserer Seite? Was meinte er damit? Hadi hatte mich voll auf dem falschen Fuß erwischt. Zwar hatte ich meine Unschuld, meine Ahnungslosigkeit über die Verbrechen des deutsch-österreichischen Nationalsozialismus bereits verloren, vom Wesen des internationalen Faschismus verstand ich aber noch immer nichts. Und nun warf mich dieser Hadi einfach in den Hades. Er unterstellte mir Komplizenschaft, mir, der ich doch voller Empörung und Abscheu auf die Untaten der Nazis und ihrer Schergen herab blicke! Das ging nun doch eindeutig zu weit. Mir dämmerte zum ersten Mal, dass der Gottesbegriff für den Muslim Hadi mit meinem vagen Gottesverständnis wohl kaum in Einklang zu bringen ist…
Na ja! Inzwischen haben wir Suez passiert und die RAVENSTEIN zerteilt mit ihrem altbackenen Keilsteven das vor ihr in der Sonne gleißende Rote Meer: Arabisch Bahr el Ahmar, im Altertum auch Sinus Arabicus oder Mare Erythreum geheißen. Der Name Rotes Meer kommt laut Meyers Lexikon online von einem Cyanobakterium mit roten Pigmenten. Warum das Wasser trotzdem tiefblau ist, wird da leider nicht verraten. Verraten wird, „ dass die Oberflächentemperaturen im Sommer meist über 30° C liegen. Im Winter – außer im Golf von Suez – zwischen 20° C und 25° C. Die Wasserschicht unterhalb 200 m bis zum Boden hat nahezu konstante Werte von Temperatur (21,7) und Salzgehalt (40,6 %). Die Oberflächenströmungen verlaufen im Wesentlichen südwärts an der afrikanischen und nordwärts an der arabischen Küste. Der Tidenhub der Gezeiten beträgt bis zu 2 m. Die wichtigsten Häfen sind Massaua, Port Sudan, Suez, Djidda, Janbo, Hodeida. “
Die ca. 1.200 sm lange Strecke zwischen Suez und Bab al-Mandab schaffte ein Schnelldampfer wie der alte Viermaster noch locker in zweieinhalb Tagen. Für moderne Schiffe mit ihren hoch gezüchteten Motoren dürfte das kaum zu schaffen sein. Bab al-Mandab, das ist die 27 km breite Meerenge zwischen Afrika und Arabien. Die Bezeichnung Bab al-Mandab – „Tor der Tränen“ – stammt noch aus jener Zeit, als arabische Sklavenhändler ihre menschliche Fracht aus dem in greifbarer Nähe liegenden Afrika in den Orient verschifften. Aber das ist ja, Allah sei Dank, längst Geschichte oder? Hört man doch immer wieder, dass sich die superreichen Emirate jetzt ihre Sklaven, immerhin Lohnsklaven, aus Ostasien, z. B. von den Philippinen, holen.
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