Es mag zunächst so aussehen, als würden die unterschiedlichen radikalen Narrative zwischen Gruppen geteilt und auch innerhalb einer Gruppe unhinterfragte Weltdeutungsmuster mit Totalitätsanspruch darstellen. Jedoch darf man diese Narrative nicht zu monolithisch denken. Denn sie sind nicht isoliert, sondern vielfältig miteinander verbunden – aber gerade nicht als ein konsistentes System, sondern vielmehr wie ein zusammengeschusterter, in sich widersprüchlicher und ständig bearbeiteter Flickenteppich. Dieser Flickenteppich stiftet zwar einen übergeordneten Zusammenhang; ihn „Großerzählung“ zu nennen, ist aber irreführend.
„Flexibler kultureller Code“
Daneben haben Michael Kiefer und davor Shulamith Volkov in Bezug auf den Antisemitismus das Konzept des flexiblen oder kulturellen Codes ins Gespräch gebracht. Ursprünglich wendete das Konzept sich gegen die Annahme eines „ewigen Antisemitismus“ und sollte erklären, wie der moderne Antisemitismus sich als eine eigene Form entwickeln konnte, ohne einfach bruchlos aus älteren Formen abgeleitet zu werden (Volkov). Kiefer hat in diesem Sinne mehrfach den islamischen Antisemitismus untersucht. Er kommt zu dem Schluss, dass es einen historischen islamischen Antisemitismus nicht gibt, sondern dass bestimmte Elemente des europäischen Antisemitismus in der jüngeren Zeit islamisch besetzt wurden. Man müsse daher von einem „islamisierten Antisemitismus“ sprechen, der den bisherigen Antisemitismus sozusagen mit islamischen Inhalten übercodiert. Dieses Konzept scheint der ständigen Bewegung im narrativen Geflecht besser gerecht zu werden. Es hat aber vor allem den Nachteil, den etwas abstrakten Begriff des Kulturellen zu nutzen, der die Frage nicht recht beantwortet, womit wir es eigentlich zu tun haben.
Widerstand – ein Brückennarrativ?
Etwas konkreter ist der Begriff des Narrativs, verstanden als identitätsstiftende Erzählung. Sowohl die Verschwörungstheorien, in denen sich eine generelle Skepsis gegenüber der Moderne und ihren universalistischen Werte äußert, als auch die Erzählungen vom Staatsnotstand, den korrupten Eliten und von der Verpflichtung zum Widerstand sind narrativ strukturiert. Diese narrativen Strukturen sollen Wahrnehmungsmuster organisieren und dementsprechende Handlungsoptionen plausibel machen. Sie erfüllen damit eine radikalisierende Funktion in Bezug auf den inneren Zusammenhalt bestimmter Gruppen (etwa die selbsternannte „Bürgerwehr“ Freital). Nach außen hin können sich diese Gruppen wiederum öffnen, indem sie strategische Allianzen mit Verbündeten eingehen, die unter anderen Umständen eher als Feinde angesehen werden. In diesem doppelten Sinne könnte man von „Brücken-Narrativen“ sprechen.
Jenseits von Narrativen: Praktiken, Rituale, Architekturen, Gesetze
Dennoch ist der Narrativ-Begriff etwas zu eng gefasst, weil er wie im Falle der Großerzählungen zu starke Konsistenzerwartungen schürt und sich wie der Begriff des kulturellen Codes hauptsächlich auf sprachlich verfasste Phänomene bezieht. Dabei können auch nicht-sprachliche Elemente in einem erweiterten Sinn mit ideologischen Bedeutungen aufgeladen sein. Was heißt das konkret? In den organisierten Patrouillen der selbsternannten Bürgerwehren und Scharia-Polizisten wird die Vorstellung in die Tat umgesetzt, ein höheres Gesetz (staatlich oder religiös) stellvertretend zu vollstrecken oder über seine Einhaltung zu wachen. Insofern sind dies praktische Elemente eines größeren ideologischen Zusammenhanges. In der Terrorismus-Forschung wird hier auch von Vigilantismus gesprochen8. Dieser aus dem amerikanischen Raum stammende Begriff bezeichnet stellvertretendes gewalttätiges Handeln für den Staat als den besseren Staat oder jenseits des Staates9. Dieses Handeln richtet sich, anders als im klassischen Terrorismus, dabei nicht gegen staatliche Institutionen oder Vertreterinnen und Vertreter, sondern gegen andere Bürgerinnen und Bürger. Ein anderes Beispiel für nicht-sprachliche Phänomene: Zu den völkisch codierten Männlichkeitskonstruktionen gehören nicht nur die Texte des amerikanischen White Supremacist Jack Donovan, sondern ebenso die brutalen Kämpfe oder die archaischen Tieropfer-Rituale unter den Angehörigen seines Stammes, The Wolves of Vinland. Auch diese spezifische Art, die Zusammenkunft von mehreren Menschen als Stamm zu organisieren, sowie die architektonische Gestaltung des abgelegenen Ortes „Ulfheim“ mit seiner Wikinger-Halle und den entsprechenden germanischen Symbolen sind Teil des völkischen Männlichkeitskultes. Dies sind recht explizite Beispiele dafür, wie Praktiken, Rituale, soziale und räumliche Arrangements zum Teil eines ideologischen Zusammenhanges werden können, ohne im engeren Sinne sprachlich verfasst zu sein.
Auch Gesetze können Teil eines solchen ideologischen Netzwerkes sein: So zieht die Debatte um das Kopftuchverbot für Mädchen unter 14 Jahren verschiedene Diskurse wie Muslimfeindlichkeit, Anti-Liberalismus und Ultrakonservatismus am Beispiel einer vermeintlichen Frühsexualisierung von Kindern zusammen. Hier können wir derzeit beobachten, wie einerseits das Kopftuch, bisher als Zeichen von religiös-patriarchaler Unterdrückung oder freier Glaubensausübung umstritten, mit einer neuen Bedeutung belegt und zugleich zum Gegenstand eines juridischen Prozesses wird.
Wir sollten Brücken-Dispositive in den Blick nehmen
Um die ideologischen Verbindungen, Allianzen und Prozesse zwischen sich radikalisierenden Gruppen besser zu verstehen, müssen wir also auch nicht-sprachliche soziale Artefakte betrachten. Ein Vorschlag ist der Begriff des Dispositivs. Michel Foucault hat ihn als explizite Erweiterung seiner auf Sprache reduzierten Diskurstheorie entwickelt. Dementsprechend scheint er ideal geeignet, die Phänomene, die uns beschäftigen, zu erfassen. Er versteht unter „Dispositiv“
ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.10
Mit dem Dispositiv-Begriff lässt sich nun formulieren, dass sowohl die Praxis der Bürgerwehren (v.a. Männer, die sich zu einer vermeintlichen „Volksgemeinschaft“ zählen) als auch die Scharia-Polizisten (männliche islamische Fundamentalisten) ein und demselben Dispositiv angehören: dem vigilantistischen. Hier finden sich Vorstellungen über die Legitimität von Herrschaft, über die moralische und juristische Beurteilung des Verhaltens der unter dem (staatlichen oder religiösen) Recht Stehenden und über die gewaltsame oder friedliche stellvertretende Vollstreckung dieses Gesetzes. Das vigilantistische Dispositiv umfasst somit nicht nur diskursive Elemente, sondern auch Praktiken, Gesetze (etwa Art. 20, Abs. 4 GG zum „Widerstandsrecht“), Institutionen, Formen sozialer Gruppierungen und anderes mehr.
Gleichzeitig bilden sich von hier aus Brücken zu Verschwörungstheorien („der Große Austausch“), zu Dekadenznarrativen (der „verdorbene Westen“) oder zu Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen (bei Jack Donovan das „Barbarentum“ als Selbstbehauptung völkisch codierter Männlichkeit wider die Dekadenz der großstädtischen liberalen Elite). Solche Brückennarrative können also Teile eines umfassenderen Dispositivs sein. So lassen sich die vielfältigen ideologischen Verschachtelungen skizzieren und analysieren, ohne sie in eine monolithische „Großerzählung“ zu zwingen. Der Begriff der Brücken-Dispositive bringt die oftmals irritierenden ideologischen Gemeinsamkeiten radikalisierter Gruppen auf den Punkt. Genau deshalb sollten wir ihn nutzen.
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