Friedrich Hebbel
Maria Magdalena
Lektüreschlüssel XL
für Schülerinnen und Schüler
Von Wolfgang Keul
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Friedrich Hebbel: Maria Magdalena. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten . Hrsg. von Wolfgang Keul. Stuttgart: Reclam, 2015 [u. ö.]. (Reclam XL. Text und Kontext, Nr. 19231.)
Diese Ausgabe des Werktextes ist seiten- und zeilengleich mit der in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 3173.
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Lektüreschlüssel XL | Nr. 15496
2018 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2018
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961389-5
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015496-0
www.reclam.de
»Ich verstehe die Welt nicht mehr!« (III,11; S. 95) – mit diesem Satz schließt das Drama; Meister Anton bleibt allein zurück – verstört, seelisch Trümmer einer Existenzzerbrochen, mit seiner Weltanschauung in tiefem Zwiespalt. In diesem berühmten Schlusswort ist das zentrale Thema des Dramas gebündelt.
Was ist geschehen? Meister Anton, ein rechtschaffener Bürger, allseits geschätzt in seinem Metier als Tischler, ehrbarer Familienvater und geachtetes Mitglied der städtischen Gesellschaft, erlebt binnen einer Woche den Zusammenbruch all seiner Überzeugungen, die sein festgefügtes Weltbild ausmachten. Die bürgerlichen Moralvorstellungen von Sitte und Tugend, die für ihn unverrückbare Gültigkeit besaßen, scheinen in Auflösung bürgerlicher TugendvorstellungenAuflösung begriffen. Sein Sohn Karl wird eines Diebstahls bezichtigt. Die Tochter Klara ist schwanger; der Erzeuger des Kindes verweigert die Heirat, die den Fehltritt vor der Öffentlichkeit kaschieren würde, und sie begeht Selbstmord. Die Bloßstellung der Familie ist unausweichlich.
Man könnte meinen, dass eine derartige Problematik in der heutigen Zeit hoffnungslos Problematik: Veraltet oder aktuell?veraltet ist. Wer nimmt heutzutage noch an einer unehelichen Schwangerschaft Anstoß? Und dennoch erfreut sich das Stück auf deutschsprachigen Bühnen nach wie vor ungebrochener Beliebtheit. Dafür muss es Gründe geben.
Über Klara äußerte sich Hebbel 1839 in einem Tagebucheintrag: »Durch Dulden Tun: Idee des Weibes.«1 Und in einem Brief an seine damalige Lebensgefährtin Elise Lensing2 bekannte er am 26. März 1843, er sei erschüttert, »wie sie [Klara] aus der Welt herausgedrängt wird«.3 Die Frau als passives Objekt widriger gesellschaftlicher Umstände, der kein selbstbestimmtes Leben zugestanden wird – diese Sichtweise lässt jede nur halbwegs Weibliche Emanzipation?emanzipierte Frau unserer Tage befremdet die Stirn runzeln. Der brisante Kontrast zwischen den unterschiedlichen Geisteshaltungen des 19. und 21. Jahrhunderts verleitet dazu, die Stellung der modernen Frau vor der historischen Folie kritisch zu reflektieren.
Meister Anton wird in der Sekundärliteratur durchgängig als ein Mensch gedeutet, der engstirnig an überholten Tradition und ErneuerungTraditionen festhält, so dass er an der gesellschaftlichen Fortentwicklung, wie sie unvermeidlich ist, zerbricht. Das Defizit in seinem Wesen bestehe somit in seiner Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit zu flexibler Wandlung und Anpassung.
Fraglos kann eine derartige Einstellung auf viele Menschen in heutiger Zeit übertragen werden. Der dynamische Gesellschaftlicher Wandel heuteWandel gesellschaftlicher Anschauungen, der neue Normen definiert, raubt dem Althergebrachten seine Gültigkeit; folglich büßen viele Menschen den Halt und die Sicherheit ein, den die Geborgenheit des Althergebrachten seither vermittelte.
In unserer Gesellschaft herrscht Konsens darüber, dass Innovationen weitgehend per se positiv betrachtet werden. Was aber, wenn das nicht ohne Weiteres zutrifft? Wie ist das mit der Gentechnik, mit dem Datenschutz im Internet, mit sozialen Netzwerken und Mobbing?
Auch gegenwärtig erkennt man Entwicklungen zuhauf, die in manchen Menschen Verunsicherung und Orientierungslosigkeit erzeugen, weil bisher allseits anerkannte Normen ihre Gültigkeit verlieren: sei es die Lockerung des Familienverbandes, mit der ein Verlust an Geborgenheit und Zuwendung einhergeht; sei es die Öffentlichkeit persönlicher Daten in sozialen Netzwerken, die Reduzierung von Face-to-face-Kontakten infolge der Internetnutzung, die vertraute Gewohnheiten infrage stellen.
Im angelsächsischen Raum wird derlei Unbehagen als ›German angst‹ milde belächelt. Doch sollte man das Problem nicht leichtfertig bespötteln, da es sich um ein weit verbreitetes Phänomen handelt. Die allgemeine Verunsicherung und Orientierungslosigkeit führen vielfach zu einem Festklammern an Althergebrachtem und Gewohntem, weil man anderweitig keinen Halt mehr zu finden glaubt.
Trotzdem muss das Mitgefühl für Meister Anton in einer zentralen Hinsicht infrage gestellt werden. Wie er die Vorgaben bürgerlicher Tugendprinzipien verabsolutiert, ist äußerst zweifelhaft, ja inakzeptabel: Moralische Makellosigkeit sowie das untadelige Bild seiner Familie in der Öffentlichkeit dulden für ihn keine Trübungen, gleich welcher Art. Als Klaras Freitod zunächst als Unfall erscheint, entfährt ihm Verstörendes: »[S]o ist alles gut« (III,11; S. 94). Man traut seinen Ohren nicht: Wenn nur der Schein der Reputation gewahrt bleibt, wird der Tod der Tochter billigend in Kauf genommen. Moralische Leitbilder und FanatismusMoralischer Rigorismus schlägt um in Eiferei.
Wie ist eine sittliche Richtschnur zu bewerten, wenn sie derlei Fanatismus hervorzubringen vermag? – Können von hier aus Parallelen zu den gegenwärtigen Exzessen des Islamismus gezogen werden, der sich zur Rechtfertigung terroristischer Gewalt auf seine Religion beruft?
Maria Magdalena – nur verstaubte Literaturgeschichte?
Hebbel hat den Dramentext mit einem Neubegründung des bürgerlichen TrauerspielsVorwort versehen. In verschlungener Argumentation setzt er sich gegen die traditionelle Form des bürgerlichen Trauerspiels ab, in dem Standeskonflikte zwischen Adel und Bürgertum die tragischen Konflikte hervorriefen; vielmehr seien bürgerliche Menschen wie Personen höheren Standes gleichermaßen von tragischen Verwicklungen betroffen (vgl. Text S. 25). Hebbel möchte den tragischen Konflikt aus den bürgerlichen Verhältnissen selbst entstehen lassen. Insofern werde ein neuer Typus der Gattung begründet. – Wegen seiner theoretischen Ausrichtung stellt das Vorwort allerdings keinen direkten Bezug zum Inhalt des Dramas her.
I,1:Ein Sonntagmorgen. Therese, die Ehefrau des Tischlermeisters Anton, ist von einer schweren Krankheit genesen. Aus Dankbarkeit zu Gott legt sie zum Abendmahlsgottesdienst ihr weißes Brautkleid an; mit der Farbe will sie ihr Bürgerliche Wertesittsames, gottesfürchtiges Leben dokumentieren. Ihre Tochter Klara hingegen bewegen trübsinnige Vorstellungen: In tiefer Sorge um das Wohlergehen ihrer Mutter denkt sie bei der weißen Farbe an ein Leichenkleid.
I,2:Klaras Bruder Karl erscheint; voller Stolz trägt er eine goldene Kette, die er sich vom Lohn seiner geleisteten Überstunden gekauft hat. Klara missbilligt die Geldverschwendung. Karl geht seine Mutter um Geld an. Als er abgewiesen wird, beklagt er sich, er genieße in seiner Familie keinen guten Leumund, und entfernt sich.
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