„Nein, ich bin nicht alleine“, sagte ich. Ich war kurz davor, meiner Schwester von Jenny zu erzählen, aber ich überlegte es mir im letzten Moment doch anders. „Ich habe hier Freunde gefunden.“
„Was für Freunde?“, wollte Carina wissen. „Gehst du arbeiten? Sind es Freunde von der Arbeit? Oder wo hast du sie kennen gelernt?“
Warum musste sie so bohren und war so neugierig?
„Ich habe sie in meiner Freizeit getroffen“, sagte ich.
„Du kennst sie aus der Kneipe“, stellte Carina fest. „Ich schwöre dir, wenn ich das Vater erzähle, holt er dich morgen ab und verkauft die Wohnung wieder.“
„Ich kenne sie nicht aus der Kneipe. Und ich bleibe hier.“
„Das glaube ich nicht“, sagte Carina. „Mutter geht es sehr schlecht. Sie vermisst dich.“
„Na, und?“, hätte ich gerne gesagt. „Ist mir doch scheißegal.“
Aber ich sagte nichts.
„Ich weiß nicht, was du gegen Mama hast“, erläuterte sie dann. „Sie hat sich immer liebevoll um dich gekümmert. Sie hat dir alles hinterhergetragen und war immer für dich da. Seit du in Solingen bist, hast du sie nicht einmal angerufen. Du musst dich bei ihr melden, denn wenn du das nicht tust, wird Vater dafür sorgen, dass du zurückkommst.“
„Ich habe keine Zeit“, log ich.
„ICH habe keine Zeit für so was“, meinte Carina trocken. „Du hast nicht mal einen Job, du kriegst doch dein eigenes Leben ohne Hilfe nicht auf die Reihe. Und du sagst mir, du hättest keine Zeit, deine fürsorgliche Mutter anzurufen? Menschen wie du haben nicht KEINE ZEIT“, schrie sie. „Du rufst Mutter an, oder es setzt was.“
„Du kannst mir nicht drohen. Ich lebe jetzt hier alleine. Ich habe eine Freundin und ein neues Leben, ohne eure nervtötende und kontrollsüchtige Familie.“
Ich wollte es ins Telefon schreien, aber ich brachte kein Wort heraus.
„Hast du mich verstanden?“, sagte meine Schwester.
„Ich werde ihr schreiben“, sagte ich dann leise. „In den nächsten Tagen.“
„Und hast du dich bereits bei der Fachhochschule gemeldet?“, hakte sie nach. „Vater will, dass du dein Studium aufnimmst.“
„Ja, da bin ich dran“, log ich. „Aber ich will mir mehrere Optionen offenhalten. Vielleicht eine Ausbildung im Bürobereich.“
„Du sollst nicht das Wort ABER benutzen, wenn ich mit dir rede, hast du kapiert?“, schrie sie mich an. „Vater hat ganz klare Anforderungen, nur deshalb hat er dir deinen Wunsch, mit der eigenen Wohnung, in Solingen ermöglicht. Und du wirst diese erfüllen. Da diskutiere ich gar nicht mit dir. Nächste Woche wirst du mir eine Immatrikulationsbescheinigung schicken, per Post.“
„Aber…“, stammelte ich verlegen.
Wie sollte ich das machen? Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich da bewerben sollte. Ich hatte doch keine Ahnung von nichts. Warum dachte ich denn immer, das müsste ich nicht?
„Halt’ den Mund und mache, was ich dir sage“, befahl sie. „Und melde dich bei Mutter. Sonst werde ich persönlich dafür sorgen, dass du kein Geld mehr bekommst.“
Wie ich sie hasste. Wie ich sie verfluchte. Sie machte das schon seit der Kindheit. Zwei Jahre jünger, aber sie war immer die Stärkere. Nie gab sie mir eine Chance oder hatte Vertrauen in die Dinge, die ich tat oder tun wollte.
„Mach’ es so“, sprach sie.
„Ja, ist ja gut“, versprach ich ihr, wobei ich gleichzeitig wusste, dass ich dieses Versprechen nicht halten würde oder könnte.
Nein, das würde ich nicht. Aber ich wollte, dass sie Ruhe gibt. Ich wollte ihre Stimme nicht mehr hören.
Ich hatte die Vermutung, dass Carina es wusste. Es konnte nicht sein, dass sie als Kind jahrelang neben mir her gelebt hatte und nichts mitbekommen hat. Ich hatte auch die Vermutung, dass Vater es wusste. Für ein paar Jahre war es sogar fast offensichtlich. Ich habe mich oft gefragt, warum Mutter bei mir im Zimmer nächtigen musste, als ich noch ein Kind war. Aber ich hatte es vergessen.
Als ich Jenny kennen lernte, fragte sie oft nach und wollte Dinge über meine Familie wissen. Ich wich immer wieder aus, bislang erfolgreich.
Aber die Bilder, die seitdem immer wieder in meinem Kopf rumschwirrten, wurden immer klarer. Und die Erinnerungen immer deutlicher. Ich wollte es nicht sehen.
An diesem Abend, noch vollkommen durcheinander von dem Telefonat mit Carina, lief ich dann wieder ins Lokal und trank.
Abschalten. Nicht nachdenken. Alles hinter mir lassen.
Die ersten beiden Biere trank ich alleine, abseits in der Ecke. Ich sagte keinen Ton und lauschte nur der Musik, die aus der Musikbox kam und die Kneipengespräche der Anderen untermalte. Es war ein angenehmes Gefühl, so dazusitzen und an nichts denken zu müssen.
Bloß raus mit diesen Bildern aus meinem Kopf.
Oh man, Jenny, wo warst du, wenn man dich brauchte?
Nachdem ich mehrere Bier intus hatte und ich schon überlegte, mir zum nächsten Bier einen Schnaps zu bestellen, kam Rainer rein, ein älterer Mann, mit dem ich schon einige Male ein paar interessante Gespräche geführt hatte.
„Hallo, auch wieder hier?“, sagte er.
„Klar“, meinte ich, wobei ich versuchte, meine schlechte Laune nicht zu zeigen. „Hast du dein Arbeitsleben wieder aufgenommen?“
„Wie du dich immer ausdrückst“, lachte Rainer. „Aber ja, ich arbeite wieder. Wurde auch Zeit nach drei Monaten in der Reha.“
„Und direkt wieder Vollzeit?“, wollte ich wissen.
„Ich gehe nicht mehr auf Kundenbesuche“, teilte Rainer mir mit. „Ich habe jetzt die Leitung einer Abteilung übernommen.“
„Gut“, lobte ich ihn. „Das ist ja Klasse.“
„Trinkst du einen mit?“, wollte er wissen.
Was für eine Frage.
Rainer war in Ordnung. Außendienstmitarbeiter in einer renommierten Firma, aber bodenständig. Er war immer recht verständnisvoll. Er hörte zu, wenn ich etwas erzählte. Nicht so wie die Anderen, die mich auslachten. Er lachte mich nie aus.
Wahrscheinlich lag seine Art an der Empathie, die er für seine Kunden aufbringen musste. Trotzdem erschien es nicht aufgesetzt.
„Du wirkst ein bisschen zurückhaltend heute“, stellte er fest. „Sonst bist du immer so fröhlich und ausgelassen.“
Ich nickte vorsichtig. „Tja“, meinte ich. „Ich bin irgendwie heute nicht so gut drauf.“
„Hast du Probleme?“
Ich sah ihn an. „Nicht wirklich“, erläuterte ich.
Dann kam das Bier, das er bestellte, und ich trank es in einem Zug aus. Schon in der nächsten Sekunde spürte ich diese wohlige Wärme, die sich von meinem Bauch aus über den gesamten Körper ausbreitete.
Es wurde besser. Mit jeder Sekunde und mit jedem Schluck wurde es besser.
„Weißt du“, meinte ich dann zu Rainer, „meine Freundin hat sich länger nicht gemeldet.“
„Sie hat sicher viel zu tun,“ Versuchte er mich zu beruhigen.
„Ich denke, es ist vorbei“, phantasierte ich mir dann meine eigene Realität zurecht. „Dabei bin ich extra wegen ihr hergezogen.“
Ich bestellte mir noch ein Bier, diesmal ein großes.
„Ich bin alleine hier“, stammelte ich vor mir her. „Ich bin extra wegen ihr gekommen. Und jetzt ruft sie nicht mal mehr an, so eine Scheiße. Ich vermisse sie.“
Dabei merkte ich, dass eine Träne über die Wange lief, die ich dann mit dem Handrücken wegwischte. Ich hoffte, keiner hat das gemerkt. Aber eigentlich war es mir auch egal.
„Überlegst du, zurückzugehen?“, wollte Rainer dann wissen.
Ich schüttelte den Kopf. „Niemals“, rief ich laut.
Und prompt drehten sich einige Leute um.
„Sie ist verheiratet“, rief ich. „Ist aber egal. Meine Freundin ist verheiratet. So, jetzt wisst ihr es.“
Lachen und Gelächter.
„Bist du sicher, dass sie deine Freundin ist?“, fragte einer. „Wir sehen uns doch fast jeden Abend hier. Und ich habe dich noch nie mit einer Frau gesehen.“
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